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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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dieses Orts in Einklang zu bringen, und es kam ihr so vor, als würde diese Schönheit nur eine wahrere, tiefere und unheilvollere Welt verdecken, die unter der Oberfläche lauerte.
    Sie setzten sich gemeinsam an den kleinen Tisch. Neugierig betrachtete Lucy das Obst. Es wirkte nicht ganz echt. Sie probierte eine Erdbeere. Und fand, dass sie nur entfernt nach Obst schmeckte. Sie hatte Sehnsucht nach den Früchten im Urwald, reif, süß, aromatisch. Doch dann sagte sie sich: Hör auf zu jammern. Du hast bloß Heimweh. Reiß dich zusammen.
    Um sich abzulenken, fragte sie: »Was wollen wir heute machen?«
    Jenny dachte einen Augenblick nach, während sie Beeren in ihre Schale mit Joghurt füllte. »Hm, was würdest du denn gern machen? Es gibt so vieles in der Stadt, was man tun könnte.«
    »Darf ich vielleicht etwas im Fernsehen anschauen? Das habe ich noch nie gemacht.«
    Jenny zuckte die Achseln. »Natürlich. Okay. Aber tagsüber ist das Fernsehprogramm ziemlich dämlich. Und wenn ich so drüber nachdenke, am Abend eigentlich auch.«
    »Ja, ich weiß. Das hat Papa auch gesagt. Aber ich bin neugierig, was es überhaupt ist.« In Lucys Vorstellung war das Fernsehen |41| etwas Machtvolles. Und wenn sie lernen konnte, fernzusehen, dann würde sie vielleicht auch diese Kultur besser verstehen.
    Nach dem Frühstück ging Jenny mit Lucy ins Wohnzimmer und erklärte ihr, wie die Fernbedienung funktionierte. Lucy drückte den Einschaltknopf. Doch als das Bild aufflammte und der Ton einsetzte, ließ sie die Fernbedienung fallen und presste sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hände auf die Ohren. Jenny konnte nicht anders, sie musste lachen. Sie hob die Fernbedienung wieder auf und stellte den Ton leiser.
    »Tut mir leid. Ich weiß gar nicht, warum es so laut eingestellt ist. Ach, das war sicher Nydia, die Frau, die das Haus gehütet hat. Sie schaut ganz gern mal fern.« Sie gab Lucy die Fernbedienung zurück. »Spiel ein wenig damit herum. Du wirst es schon herausbekommen.« Damit ging Jenny in ihr Arbeitszimmer.
    Lucy drückte einen Knopf, und auf dem Bildschirm erschien ein Werbespot für etwas, das Scalpicin hieß. Eine Frau war zu sehen, die sich mit besorgter Miene am Kopf kratzte, und eine geisterhafte Stimme sagte: »Die einfachste Lösung für eine gesündere Kopfhaut.« Lucy fand das höchst seltsam. Was war verkehrt daran, sich zu kratzen?
    Sie drückte einen anderen Knopf, und eine Art Schauspiel begann. Ein paar Menschen stritten sich. In der einen Frau erkannte Lucy das alte dominante Weibchen, aber sie hatte irgendetwas mit ihrem Gesicht gemacht, so dass sie jünger wirkte. Lucy war verblüfft. Wer wollte denn jünger aussehen und damit freiwillig das Ansehen, das das Alter verlieh, aufgeben? Und es fiel ihr auch schwer, der Geschichte zu folgen. Es war anscheinend ein Baby geboren worden, aber irgendwer hatte es gestohlen, und es gab eine Mordtat wie in einem Theaterstück von Shakespeare, und die Ehefrau von jemandem |42| hatte sich mit dem Ehemann einer anderen gepaart. Und irgendwer lag im Krankenhaus, auch wenn Lucy nicht recht klar wurde warum. Die Leute schienen alle gemein und wütend zu sein. Es war alles höchst verwirrend.
    Dann wechselte das Bild unvermittelt zu einer dringend klingenden Nachricht über eine neue Art Schwamm an einem Stiel, mit dem man den Fußboden wischen konnte. Und danach erzählte ein Arzt Lucy, dass ihre Gelenke schmerzten. Ein großes Schiff erschien, und jemand, den Lucy nicht sehen konnte, rief, dass das Schiff sie in die Karibik bringen würde. Aber sie wollte doch gar nicht in die Karibik. Sie wollte bei Jenny bleiben. Lucy fürchtete, dass all diese unsichtbaren Leute sie entführen und wegbringen könnten. Und sie redeten alle so laut und so schnell. Noch nie war Lucy jemandem begegnet, der seine Worte ratternd wie ein Maschinengewehr herausschrie. Wer waren diese Leute nur, fragte Lucy sich. Und wo waren sie? Und existierten sie alle wirklich?
    Lucy fühlte sich ganz benommen und konnte einfach nicht mehr folgen, also drückte sie einen weiteren Knopf und der Bildschirm wurde schwarz. Als sie die Fernbedienung weggelegt hatte und durchs Zimmer zum Bücherregal ging, fühlte sie sich irgendwie unzulänglich, weil sie nicht in der Lage war, fernzusehen. Sie fuhr mit dem Zeigefinger über die Reihe der Buchrücken und hielt bei einem ihr vertrauten Titel an:
Der Raritätenladen
. Sie las: »Ich mache meine Spaziergänge für gewöhnlich des Nachts«, und spürte, wie

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