Lucy
Die haben gut geschmeckt. Ich wusste gar nicht, dass es in diesem Haus Termiten gibt. Aber wer weiß, mit welchen Chemikalien unsere Termiten hier verseucht sind. Ich hätte Angst, sie hier einfach so zu essen.«
Lucy hielt inne und zog mit enttäuschter Miene den Grashalm heraus.
»Wahrscheinlich hast du recht. Ich habe mich einfach gefreut, als ich merkte, dass da Termiten sind. Das Essen hier ist so seltsam.«
|38| »Ich weiß. Und weil wir gerade von Chemikalien sprechen, wer weiß schon, was in unserem Essen alles drin ist? Aber wir müssen damit zurechtkommen. Was deine Kleidung angeht …« Jenny sammelte Lucys Sachen auf und legte sie aufs Bett. »Ich weiß, dass du nicht gern angezogen bist. Ich eigentlich auch nicht. Im Urwald bin ich auch oft ohne Kleider herumgelaufen. Ich habe gar nichts dagegen, wenn du im Haus nackt herumläufst. Aber generell wirst du dich an die Kleidung leider gewöhnen müssen. Na, ich werde mal sehen, ob ich etwas finde, das dir schmeckt.«
Lucy mochte Jenny sehr, sie war ein so fürsorglicher und guter Mensch. Einen Augenblick lang gab sie sich ganz der Vorstellung hin, wie sie beide gemeinsam durch den Urwald rannten und sich an der Fülle und Schönheit dort erfreuten. Doch sie erkannte schnell, dass Jenny nie würde Schritt halten können. Und da durchfuhr sie der Gedanke: Ich habe jetzt niemanden mehr auf der Welt. Sie wollte gern, dass Jenny alles über sie erfuhr, wusste aber nicht, wie sie das anstellen sollte.
Doch heute war ein neuer Tag. Sie hörte Jenny in der Küche mit Tellern klappern. Ich bin jetzt hier, dachte Lucy, und muss das Beste daraus machen. Dann gewöhne ich mich also besser mal an Kleidung, wenn Jenny das sagt. Seufzend stand sie auf und zog sich an.
Sie ging den Flur entlang ins Badezimmer, drehte den Hahn am Waschbecken auf und ließ sich das Wasser über die Hände laufen. Dann spritzte sie sich etwas ins Gesicht und bückte sich, um aus dem Hahn zu trinken. So ein Wunder, dachte sie. Wasser ist Leben, wie ihr Vater immer sagte. Und hier floss es einfach endlos aus einem silbrigen Rohr, als ob alle Flüsse der Welt an dieser einen Stelle auf wundersame Weise und zu keinem anderen Zweck zusammenflossen, als um Lucy zu erfreuen.
|39| Sie trocknete sich Hände und Gesicht ab und ging dann hinunter in die Küche, wo Jenny an der Arbeitsplatte lehnte und Zeitung las. Lucy betrachtete Jenny eine Weile, wie sie so ruhig und aufmerksam diese ewigen Geschichten von Katastrophen und Gemeinheiten studierte, während sie aus einem mit gelben Birnen bemalten Becher Kaffee trank. Jenny war auf eine robuste, kraftvolle Weise schön, groß und schlank, und das rotblonde Haar fiel ihr in Locken bis über die Schultern. Sie hatte lange schmale Finger, doch ihre Hände waren schwielig von der Arbeit im Urwald, und ihre Fingernägel kurz und teils abgebrochen. Ihre Hände sahen aus, als besäßen sie eine ganz eigene Intelligenz.
Auf der Arbeitsplatte sah Lucy einen glänzenden silbernen Toaster, eine Pfeffermühle, grobes Salz in einer kleinen Keramikschale und einen Weidenkorb mit Papierservietten stehen, alles Dinge, die sie bisher nur auf Fotos in den Büchern, Katalogen und Lexika gesehen hatte, die ihr Vater hatte flussaufwärts kommen lassen. Diese Bücher waren kleine Fenster aus dem dunklen Urwald in eine strahlende und fremdartige Welt gewesen, und Lucy hatte Stunden damit zugebracht, in sie hineinzusehen und sich vorzustellen, wie es wäre, selbst dort zu sein. Und jetzt war sie hier, und sie sah, dass diese Welt Wirklichkeit war, so wirklich und strahlend, dass es sie beinah in den Augen schmerzte. Lucy sah, wie das Licht durchs Fenster fiel, sich auf die wundersamen Dinge legte und sie zum Leuchten brachte, als hätte jedes von ihnen ein lebendiges Herz.
Jenny seufzte auf, entnervt von einem Artikel, den sie gelesen hatte. Doch als sie sich Lucy zuwandte, strahlte sie über das ganze Gesicht.
»Also, Lucy, was möchtest du zum Frühstück haben? Ich kann so ziemlich alles machen, was du willst.«
|40| »Vielen Dank.«
»Wie wär’s denn mit Obst und Joghurt?«
»Das wäre prima.«
Jenny begann, Pfirsiche in Scheiben zu schneiden, und stellte Schalen mit Beeren, Nüssen und Joghurt auf den Tisch. Dann goss sie noch Orangensaft in eine Keramikkanne, die zu den Kaffeebechern passte. Lucy bewunderte die Küche. Alles war so wunderschön. Aber irgendwie kam es ihr fast zu schön vor. Sie versuchte die Schönheit mit den bedrohlichen Geräuschen
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