Lucy
von London hatte Jenny gedacht: Ich sollte mich wirklich auf meinen Geisteszustand untersuchen lassen. Ich kenne dieses Mädchen doch gar nicht. Ein anderer Teil von ihr hielt mit einem rationalen Argument dagegen: Sie würde sich ja nur so lange um Lucy kümmern, bis deren Familie gefunden war. Lucy würde ein paar Wochen bei ihr verbringen, vielleicht einen Monat. David suchte inzwischen doch schon nach den Verwandten ihrer Mutter. Er würde sicher jemanden finden, der für ein so kluges, aufgewecktes und hübsches Mädchen sorgen wollte. Na gut, Lucy wirkte auch etwas seltsam, zweifellos. Aber wer würde nicht seltsam wirken, wenn er im Dschungel aufgewachsen wäre?
Jenny dachte an die Episode mit der Dusche, nachdem sie endlich zu Hause angekommen waren. Sie selbst wollte als Allererstes immer eine richtige Dusche, wenn sie aus dem Kongo zurückkam. In dem scheußlichen Apartment in London hatten sie sich mit einem Waschlappen behelfen müssen. Doch so sehr Jenny sich nach einer Dusche sehnte, erst war Lucy dran. Sie nahm das Mädchen bei der Hand und führte sie die Treppe hinauf, an deren Absatz oben gleich das Gästezimmer lag. Am anderen Ende des Flurs war Jennys Schlafzimmer mit einem eigenen Bad. Zwischen den beiden Zimmern lag das Gästebad, das noch ganz genau so aussah wie 1955, als ihre Eltern das Haus gebaut hatten, mit gelben Fliesen bis auf die halbe Wandhöhe hinauf und einem unglasierten Mosaikboden in drei Gelbtönen. Ein Druck von Sargents |49|
Ägyptischem Mädchen
hing an der einen Wand, und an eine andere hatte Jenny einen Korb mit getrockneten Blumen gehängt. Sie zeigte Lucy, wie man die Temperatur einstellte, worauf das Mädchen eine ganze Weile nur dastand und die Dusche anstarrte.
»Hast du vorher noch nie eine Dusche gesehen?«
»Ich habe davon gelesen. Aber ich wusste nicht, dass es so ist, als würde man drinnen Regen machen.«
»Hm, ja, könnte man vermutlich so sagen. Also, du stellst dich jetzt einfach unter das Wasser und wäschst dich.« Und noch ehe Jenny sie aufhalten konnte, war Lucy hineingehüpft und tanzte unter dem Wasserstrahl herum.
»Lucy, Lucy, bitte.« Doch Lucy hörte erst auf, als Jenny das Wasser abdrehte.
»Oh, Entschuldigung«, sagte Lucy und wischte sich Wasser aus dem Gesicht. »Das fühlt sich so gut an. Darf ich das bitte noch länger machen?«
»Ja, aber zieh erst mal deine Sachen aus. Ich hole dir ein paar frische. Und ruf einfach, wenn du mich brauchst.« Kopfschüttelnd verließ Jenny das Badezimmer.
Unten setzte sie sich in ihren Lieblingssessel und sah sich in ihrem Wohnzimmer um. Sie seufzte. Es tat gut, wieder zu Haus zu sein. Sie war gern im Urwald, doch die kleine Hütte hatte sie langsam ziemlich satt. Und sie vermisste immer ihr »Zeug«, wie Harry es nannte, wenn sie im Kongo war. Sie hatte sich Mühe gegeben, das Beste aus dem Fünfziger-Jahre-Stil des Hauses zu machen. Die Wände waren hellgrün gestrichen, und sie hatte alles mit Weidenkörben, afrikanischen Masken und Keramiken geschmückt, um dem Ganzen eine natürlichere Atmosphäre zu verleihen.
Jenny begann die Stapel an Post durchzusehen. Als Lucy nach einer Stunde noch immer nicht heruntergekommen war, |50| ging sie wieder hinauf und spähte ins Badezimmer, um zu sehen, ob alles in Ordnung war. Lucy wirbelte immer noch tanzend unter dem Wasser herum. Doch ihr klapperten die Zähne, und ihre Lippen waren blau angelaufen.
»Mein Gott, Lucy, das geht doch nicht.« Jenny drehte schnell das Wasser ab und wickelte das Mädchen in ein großes Badehandtuch. Lucy lächelte, obwohl sie zitterte.
»Kein Duschen mehr?«
»Jetzt bin ich dran.« Jenny hatte eine weitere Stunde warten müssen, bis wieder genug heißes Wasser da gewesen war.
Nydia, die immer Jennys Haus hütete, hatte kaum etwas zu essen dagelassen, daher fuhr Jenny nach dem Duschen erst mal mit Lucy zum Supermarkt, um die Vorräte aufzustocken. Lucy stand staunend da, als sie drin waren. Anfangs schien sie sich gar nicht mehr bewegen zu können. Sie sah sich in alle Richtungen um, mit aufgerissenen Augen, offenem Mund, hielt schnuppernd die Nase in die Luft und öffnete und schloss unablässig die Hände, während sie versuchte, die Szenerie zu erfassen.
»Es riecht nicht so, als ob es hier irgendwas zu essen gibt.«
»Willkommen in Amerika. Verpackung ist bei uns alles.«
»Wird die Musik nie ausgemacht?«
»Nein. Nie.«
»Warte, dort sehe ich Obst.« Lucy stürzte sich auf eine große Kiste Weintrauben, nahm
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