Lucy
gewaschen habe.«
Danach schlenderten sie zwischen den vielen Geschäften herum und wurden Zeugen einer Szene, die Lucy an den Urwald erinnerte. Sie versuchten gerade, sich durch das Gewimmel von Menschen rund um einen Springbrunnen herum zu schieben. Da teilte sich die Menge plötzlich, und zwei kleine Kinder, ein kleines Mädchen in Rosa und ein kleiner Junge in einer winzigen blauen Jeans, stürmten vor Freude johlend und mit Begeisterung im Gesicht aufeinander zu. Sie rannten ganz ohne Hemmungen einfach drauflos, fielen einander in die Arme und tanzten und hüpften und wirbelten herum, bis ihre Eltern die beiden wieder voneinander zu trennen versuchten. Doch der Junge in Blau und das Mädchen in Rosa waren ganz gefangen in ihrer Freude, die sich nicht so einfach auslöschen ließ.
Lucy erinnerte sich, wie sie selbst als kleines Kind einmal einer durch den Urwald ziehenden Bonobofamilie begegnet war. Auch sie hatte gleich im ersten Augenblick den schönen kleinen Bonobojungen entdeckt. Und sie beide waren ebenso freudekreischend aufeinander zugerannt, hatten sich umarmt und waren auf dem Boden herumgetollt, während sich die Erwachsenen mit dem üblichen Schulterklopfen und Rufen |46| begrüßten. Als Lucy jetzt die beiden kleinen Kinder dieses Wunder der Begegnung erleben sah, dachte sie an Mariposa, Chantel und die kleine Faith, die alle die gleiche Freude empfinden konnten wie Robinson Crusoe, als er am Strand den ersten Fußabdruck entdeckte, der ihm sagte: Ja, du bist nicht allein. Es machte Lucy traurig, dass man diese Freude in Jennys Kultur anscheinend nur offen zeigen durfte, wenn man sehr jung war. Diese Kinder waren wie kleine Bonobos. Doch schon bald würden sie erwachsen werden und sich verhalten wie alle anderen hier in diesem Einkaufszentrum. Und dann war diese Welt der Freude ihnen auf immer verschlossen. In jenem Moment schwor Lucy sich, dass sie selbst diese Freude niemals aufgeben würde, egal, wie sehr sie sich auch an diese Welt hier gewöhnen würde.
Und plötzlich empfand sie schmerzliches Heimweh nach ihrem schönen Zuhause im Urwald. Sie sehnte sich nach den satten Farben und der unvermittelten blauen Pracht, wenn nach einem Regenguss die Wolkendecke aufriss und am Ende des Tages goldene Sonnenstrahlen durch die Bäume fielen. Hier war all diese Fülle und Schönheit weggewischt, und Lucy fragte sich, warum die Leute so etwas taten.
Als sie mit Einkaufen fertig waren, ging Jenny mit Lucy in einen Bereich mit Restaurants aller Art, und sie unterhielten sich darüber, was sie essen wollten. Schon auf der langen Reise aus dem Dschungel hierher hatten sie sich viel übers Essen unterhalten. »Alle wollen immer etwas töten«, hatte Lucy gesagt. »Aber Papa und ich haben im Urwald kein Fleisch gegessen, nur Larven, Regenwürmer und alle möglichen Insekten. Die Raupen, die von den Johannisbrotbäumen fielen, waren am besten. Ab und zu hat auch jemand einen kleinen Affen gefangen, aber die meiste Zeit haben sie nur mit ihm gespielt und ihn gelaust. Und ich habe die kleinen Fische und Krabben |47| gegessen, die wir im seichten Wasser des Flusses fanden. Und Vogeleier. Aber keiner von uns hat Fleisch gegessen.«
Lucys Vater hatte sie gelehrt, dass es falsch sei, zu töten. Die Bonobos wüssten es nur nicht besser, hatte er gesagt. Sie könnten die Dinge nicht so wie die Menschen durchdenken. Und wenn man erst einmal begann, eine Tierart zu töten, hatte er hinzugefügt, dann würde man bald alle Tiere töten. Ein Mensch zu sein bedeute, so lautete seine Lehre, dass man eine Mission im Leben habe, die über Essen und Kindermachen hinausreiche, etwas, das größer sei als man selbst.
»Wie wär’s mit Falafel?«, schlug Jenny jetzt vor. »Die sind aus Kichererbsen.«
Ein Mann an einem kleinen Stand machte ihnen Falafel und frischen Karottensaft. Beides schmeckte Lucy sehr gut. »Ich wusste gar nicht, dass man Karotten auspressen kann«, sagte sie, und Jenny lachte. Jenny lachte ziemlich viel, fand Lucy.
Als sie schließlich wieder zu Hause ankamen, fühlte Lucy sich krank. Sie sagte sich, dass das sicher mit dem Stress des Einkaufens und den vielen neuen Eindrücken zu tun hatte. Ihr Vater hatte sie gewarnt, dass ihre Konstitution empfindlich sei. Stress könne sie krank machen. Als die Deutschen im Zweiten Weltkrieg London bombardierten, hatte ihr Vater erzählt, blieb der Zoo zwar von Bomben verschont. Doch die Bonobos waren trotzdem alle gestorben, an dem Lärm.
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Auf dem Heimflug
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