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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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Alles andere ist aus einem unserer Geschäfte.« Und plötzlich drehten die Motoren wieder auf, und das Flugzeug setzte seinen Steigflug fort.
    »Papa hat immer gesagt, dass es auch ein paar Gute geben wird.«
    »Gute was?«, fragte Ruth.
    »Gute Menschen.«
    Ruth lachte, und ihre Augen funkelten. Lucy mochte ihr heiteres Lachen und die Art, wie sie manchmal den Mund verzog und die Stirn runzelte, wenn sie nach den richtigen Worten suchte. Ruth verbarg nichts. Sie war im Großen Strom.
    Der Thunfischsalat war cremig, angereichert mit vielen knackigen Selleriestückchen und gut gewürzt mit Zitronensaft und Senf. Lucy sah aus dem Fenster, während sie aßen, auf die durch die Entfernung so seltsam veränderte Welt. Im Dschungel gab es so riesige Entfernungen nicht. Dort war man immer dicht an allem dran.
    Eine Stunde später schlief Ruth, und das Flugzeug begann den Sinkflug. Lucy hielt immer noch Wache am Fenster und sah, wie sich das rätselhafte Puzzle der Erdoberfläche langsam wieder zusammensetzte. Und als die Räder rumpelnd auf den Asphalt der Landebahn in Chicago aufsetzten, fuhr Ruth erschrocken aus dem Schlaf auf und rief benommen: »Habe ich das Aussteigen verpasst?« |242| Sie konnten die Menge hinter dem hohen Maschendrahtzaun schon sehen, als das Flugzeug noch die Piste entlangrollte. Horden von Fernseh- und Zeitungsjournalisten, und daneben Demonstranten hinter Polizeibarrikaden, die Schilder hochhielten. Auf einigen der Schilder standen Sprüche wie »Willkommen, Lucy!« oder »Weg mit den Sicherheitsdiensten« und »Nieder mit dem Polizeistaat«. Aber viele wiesen auch auf Bibelzitate hin, wie »Hesekiel 16,50«, »Levitikus 18,33« oder »Judas 1,7«.
    »Das ist ja total verrückt«, sagte Lucy. »Woher wissen die alle davon?«
    »Übers Internet«, erwiderte Amanda. »Du benutzt es. Und es benutzt dich.«
    »Wie heißt Ihr Freund gleich wieder?«, fragte Ruth. »Der, der Sie abholen will. Harry, oder?«
    »Ja, ich sehe schon sein Auto«, sagte Jenny. »Oje, wir müssen genau dort durch.«
    Das Flugzeug hatte seine Parkposition erreicht, und Luke kam aus dem Cockpit. »Was ist denn da draußen los? Wer sind diese Irren?«
    Er zog an einem Griff, und automatisch öffnete sich die Kabinentür und die Treppe wurde ausgefahren. Der Lärm wurde augenblicklich lauter. Jemand sprach durch ein Megafon, ein Mann: »Levitikus, Kapitel 20, Vers 16: ›Wenn ein Weib sich irgend zu einem Vieh tut, dass sie mit ihm zu schaffen hat, die sollst du töten und das Vieh auch; des Todes sollen sie sterben; ihr Blut sei auf ihnen.‹«
    »Wer sind diese Widerlinge?«, rief Amanda empört.
    »Es tut mir leid«, sagte Ruth. »Wenn man sieht, wie diese Leute sich aufführen, schämt man sich manchmal geradezu, Christ zu sein.«
    Als sie aus dem Fenster zum Zaun hinüberblickten, sahen |243| sie Harry gestikulierend mit einigen Polizisten reden, die sich dann umdrehten und ihm zum Tor folgten. Einer der Beamten schloss es auf, und die kleine Gruppe bewegte sich auf das Flugzeug zu.
    »Gut gemacht, Harry«, sagte Jenny.
    Luke war schon die Treppe hinuntergestiegen und begrüßte ihn. Sie sprachen kurz miteinander, dann steckte Luke den Kopf wieder in die Kabine. »Alles okay. Die Polizisten werden Sie sicher zum Auto bringen.«
    Ruth war aufgestanden und drückte Jenny eine Visitenkarte in die Hand. Lucy und Amanda gab sie auch eine. »Das ist unser Büro in Albuquerque. Wenn Sie einmal irgendetwas brauchen sollten, was auch immer, zögern Sie nicht, sich mit uns in Verbindung zu setzen. Und das meine ich ernst.«
    »Vielen, vielen Dank«, sagte Lucy. »Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen.«
    »Auf Wiedersehen, mein Kind. Ich komme besser nicht mit hinaus. Seid vorsichtig da draußen.«
    Am Fuß der Treppe schloss Harry erst Jenny in die Arme und dann Lucy und Amanda. Luke verabschiedete sich, und die Polizisten nahmen sie in die Mitte und führten sie rasch auf das Tor zu. Jemand in der Menschenmenge erregte Lucys Aufmerksamkeit. Es war ein einzeln stehender Demonstrant, ein junger Mann mit Bürstenhaarschnitt, lang herabhängendem Schnauzbart und dunklen Tattoos auf den Armen. Auch er hielt ein Schild hoch. Auf ein Stück Pappe gekritzelt stand da das Wort »Euthanasie«, gefolgt von der Zahl 14.   Das war alles, doch das Wort und die unheimliche Erscheinung des Mannes verfehlten ihre Wirkung auf Lucy nicht. Er war anders als die anderen Leute in der Menge. Er verursachte eine schwere Störung im Großen Strom.

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