Lucy
Jenny bekam ihren Anteil an Post, und sogar Amanda. »Sehr geehrte Frau Dr. Lowe«, begann einer der Fanbriefe an Jenny. »Ich bin ein 59 Jahre alter Witwer aus Toronto und glaube, dass ich die fehlende Figur im Leben der jungen Lucy ersetzen kann: einen Vater. Ein junges Mädchen braucht eine feste Hand …« Und so weiter.
Jenny hatte auch einen Brief bekommen, der so begann: »Du Satanshure. Ich glaube nicht, dass es je einen Dr. Stone gab. Mögest du in der Hölle schmoren für deine bestialische Sünde. Du hast nicht nur einem Affen beigewohnt, du hast auch zugelassen, dass in deinem Leib diese Teufelsbrut, ein Kind des Satans, heranwächst und dass es unsere heilige Nation beschmutzt, obwohl du es dem Tode hättest preisgeben sollen im Dschungel, wohin ihr beide gehört.«
Solche Briefe sortierten sie inzwischen rigoros aus. Eine andere Art Briefe kam von pubertierenden Jungen, die Lucy gern zur Freundin gehabt hätten. Einige fragten sogar, ob sie bei ihnen einziehen und Lucys Bruder sein dürften.
»Wir müssen aufhören, all diese Post zu lesen«, sagte Jenny. »Das ist nicht gut für uns.« Lucy reichte ihr den Brief, den sie gerade gelesen hatte.
»Kennst du die 14 Wörter?«, begann er. »Robert Matthews starb als Held und Märtyrer unserer Rasse. Seine Seele ruhe in Frieden. Wenn wir aus einem gepanzerten Geldtransporter |248| 3,8 Millionen Dollar rauben und das Murrah Federal Building in Oklahoma zum Einsturz bringen können, dann können wir mit Sicherheit auch dich finden. Und wenn wir dich finden, haben wir eine schnelle und sehr einfache Lösung für dein Problem parat: Euthanasie.« Unterschrieben war es mit »Der Orden«.
»Erinnerst du dich an diesen Typ?«, fragte Lucy. »Als wir auf dem Flughafen ankamen?«
»An welchen Typ?«
»Ja, ich hab ihn gesehen«, sagte Amanda. »Ein richtig unheimlicher Typ. Der mit den Tattoos und dem Schnauzbart, oder?«
»Ja«, erwiderte Lucy. »Er hielt ein Schild hoch, auf dem auch ›Euthanasie‹ stand und die Zahl 14.«
»Was bedeutet das?«, fragte Jenny.
»Ich google mal.« Amanda tippte ein paar Begriffe ein. »Wikipedia sagt, die Vierzehn Wörter sind ein Ausdruck, der oft von Rechtsextremisten wie den White Nationalists, Neonazis und White-Pride-Anhängern benutzt wird. Der Slogan wurde geprägt von David Lane, einem vor kurzem im Gefängnis gestorbenen Mitglied dieses ›Ordens‹. Die Vierzehn Wörter lauten: ›Wir müssen die Existenz unseres Volkes und die Zukunft für die weißen Kinder sichern.‹ Inspiriert wurde der Slogan von Adolf Hitlers
Mein Kampf
, Band I, Kapitel 8: ›Für was wir zu kämpfen haben, ist die Sicherung des Bestehens und der Vermehrung unserer Rasse und unseres Volkes, die Ernährung seiner Kinder und Reinhaltung des Blutes, die Freiheit und Unabhängigkeit des Vaterlandes, auf daß unser Volk zur Erfüllung der auch ihm vom Schöpfer des Universums zugewiesenen Mission heranzureifen vermag.‹ Blablabla.«
»Oh Gott, das sind Nazis«, sagte Jenny.
»Wow, hört euch das mal an. Manchmal wird der Slogan |249| mit der Zahl 88 kombiniert, beispielsweise 1488 oder 8814. Die ›88‹ steht für den zweifachen achten Buchstaben des Alphabets, also HH, was ›Heil Hitler‹ bedeutet.«
»Es wäre glatt komisch«, sagte Jenny, »wenn es nicht so krank wäre.« Sie sah Lucy an und fing einen Ausdruck in ihren Augen auf, den sie schon ein paarmal wahrgenommen hatte. Es war ein sekundenkurzer Einblick in die Welt des Dschungels und die wahren Kräfte ihrer Abstammung. In diesem kurzen Aufflackern sah Jenny, dass Lucy in einem echten Kampf – wenn sie glaubte, dass sie selbst, Jenny oder Amanda in Gefahr waren – töten könnte und würde.
»Ist der überhaupt echt?«, fragte Lucy.
Jenny warf den Brief auf den Haufen der Hassbriefe. »Könnte schon sein. Nehmen wir ihn einfach als Warnung, dass wir wirklich vorsichtig sein müssen.«
Lucy reichte ihr eine Einladung zu einem Treffen mit dem Kanzler der Universität, an der Lucy im Herbst ihr Studium beginnen würde. Eine gute Gelegenheit für Lucy, einige ihrer zukünftigen Kommilitonen und Dozenten kennenzulernen.
Das Telefon klingelte. Das Display zeigte eine Nummer aus New Mexico. Jenny hob ab. »Hallo?«
»Spreche ich mit Jenny?«
»Ja.«
»Jenny, hier ist Ruth. Ich hoffe, ich störe Sie nicht.«
»Nein, gar nicht. Hi, Ruth.«
»Ich wollte Sie nur anrufen, um Ihnen zu sagen, wie sehr wir uns gefreut haben, Sie und die beiden Mädchen
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