Lucy
murmelte nur noch schnell gute Nacht und ging hinein.
|255| Als sie zur Limousine zurückkam, küssten sich Amanda und Matt. Sie fuhren auseinander, als Lucy die Tür öffnete.
»Lasst euch nicht stören«, sagte Lucy.
»Schon okay, Luce«, meinte Matt mit einem Augenzwinkern. »Weiter kein Drama.«
Der Wagen setzte auch Matt ab und dann fuhr der Chauffeur die Mädchen nach Hause. Es war schon früher Morgen, doch Amanda und Lucy lagen beide wach da, viel zu erschöpft zum Schlafen. In dieser Nacht hatten sich Lucy neue Perspektiven eröffnet. Sie sah ein strahlendes Licht vor sich, das sie in ihre Zukunft tragen konnte. Sie sah, dass sie wirklich aus dem Dschungel heraus und in dieser seltsamen Kultur hier angekommen war. Sie konnte sich vorstellen, erwachsen zu werden, zu heiraten und ein ganz normales Leben zu führen.
Doch diese Nacht war Monate her. Jetzt konnte Lucy sich nichts davon mehr vorstellen. Als sich herumsprach, wer sie wirklich war, hatte der arme Weston sie angerufen. »Luce, wir können uns nicht mehr treffen. Ich würd’s gern, glaub mir, aber meine Eltern haben gedroht, dass sie mich dann nicht aufs College lassen und mir mein Auto wegnehmen. Tut mir echt leid, Luce.«
Im ersten Augenblick hatte Lucy Weston für oberflächlich gehalten. Doch dann begriff sie, dass er genauso Teil seiner Kultur war wie sie der ihren. Ihre Welten trennte eine unüberbrückbare Kluft, die sie zu überqueren gewagt hatten. Das konnte nicht gut gehen.
Auch Amanda hatte gelitten. Ihre Mutter hatte sie mehr oder weniger vor die Tür gesetzt. Ihr Vater gab ihr Geld, aber seit ihrem achtzehnten Geburtstag wohnte sie jetzt bei Lucy und Jenny. Lucy war froh darüber. Doch sie fürchtete, dass auch Amandas Zukunft verloren sein könnte, wenn sie an ihrer Freundschaft festhielt.
|256| An einem Donnerstagabend fuhren Jenny und Lucy zur Universität von Chicago. Sie hatten angenommen, dass zu dem Treffen auch andere Studenten und Dozenten kommen würden, aber das stellte sich als Irrtum heraus. Charles Revere, der Vorsitzende von Jennys Institut, empfing sie am Eingang und führte sie in ein repräsentatives Büro. Obwohl er lächelte und sehr höflich auftrat, spürte Lucy, dass er Jenny nicht wohlgesinnt war. Bibliothekslampen mit grünen Schirmen schimmerten zu beiden Seiten eines breiten, lederbezogenen Schreibtisches, hinter dem wie eine Ikone in einem Schrein ein kleiner Mann mit Glatze und einer roten Fliege saß: der Kanzler der Universität, Edmund Tanner. Sein Gesicht war so ausdruckslos wie ein Fels und sandte überhaupt keine Botschaften aus. Jenny und Lucy setzten sich auf ein Ledersofa und Revere setzte sich in einen Sessel mit Klauenfüßen. Nachdem sie alle einander vorgestellt waren und Höflichkeiten ausgetauscht hatten, fragte Jenny: »Charlie, was hat das zu bedeuten? Ich dachte, dies wäre so eine Art Orientierungstreffen für die neuen Studenten. Aber das ist es offensichtlich nicht.«
Tanner räusperte sich. »Nein, das ist es nicht, Dr. Lowe. Es tut mir leid, wenn es da ein Missverständnis gab. Wissen Sie, diese ganze Angelegenheit um Lucys Abstammung hat in der Universität erhebliche Bestürzung hervorgerufen.«
»Ach ja?«
»Ja. Bestürzung einer Art, die eine Universität nicht dulden kann, fürchte ich. Es gibt ernsthafte Fragen, die sich stellen. Ernsthafte philosophische Fragen und auch praktische Belange. Sogar rechtliche. Und ich fürchte, es wird einige Zeit dauern, bis diese Fragen beantwortet sind.«
»Ich verstehe nicht ganz –«
»Einer unserer großzügigsten Gönner hat zum Beispiel |257| damit gedroht, seine sämtlichen Zuwendungen abzuziehen, wenn wir zulassen, dass Lucy sich bei uns einschreibt.«
»Warum?«
»Genau genommen«, sagte der Kanzler, »kennen wir die Begründungen und Argumente im Moment noch nicht. Aber als Kanzler ist es meine Pflicht, die Institution vor Schaden zu bewahren.«
»Ist es nicht auch Ihre Pflicht, die Menschen innerhalb der Institution vor Schaden zu bewahren?«, fragte Jenny.
»Ja, das auch. Und um das zu tun, wenigstens bis einige Fragen hinsichtlich Lucys Status geklärt sind, werden wir leider nicht in der Lage sein, Lucy hier aufzunehmen.«
»Verstehe«, sagte Jenny.
Lucy brachte kein Wort heraus. Sie fühlte sich innerlich leer. Was der Mann sagte, überraschte sie nicht, aber sie fühlte sich, als hätte man ihr etwas geraubt, herausgerissen aus der verborgenen Stelle, an der sie ihre Hoffnungen und Träume
Weitere Kostenlose Bücher