Lucy
Tanzen beigebracht. Sie übten nach dem Ringertraining in der Turnhalle, wenn alle gegangen waren. Verschwitzt und noch in ihren Trikots nahmen sie Tanzhaltung ein. »Also, Lucy, schalt einfach dein Hirn aus und lass deine Füße den Rest machen. Eins, zwei, drei …« Es fiel ihr schwer sich zu konzentrieren, wenn Weston sie so in den Armen hielt.
Dann kam der große Tag des Balls, und Amanda und Lucy schliefen morgens erst mal aus. Nach dem Frühstück fuhr Jenny sie in einen Schönheitssalon, wo ihr Haar und ihre Fingernägel gemacht wurden, und sogar ihre Fußnägel. Am Spätnachmittag hatten sie geduscht und sich gegenseitig geschminkt. In Unterwäsche standen sie vor dem hohen Standspiegel, all ihre Sachen um sie herum verstreut.
»Siehst du, Sweetie«, sagte Amanda. »Du bist heiß, heiß, heiß.«
|253| »Wenn ich bloß Hüften hätte«, meinte Lucy, die ihren schlanken Körper betrachtete. »Meine Arme sind viel zu muskulös. Ich will eine Frau sein.«
»Na, du hast Probleme! Du siehst super aus. Punkt.«
Der Abschlussball war herrlich. Er fand in einem Saal mit gewölbter Decke statt, unter der sich eine glitzernde Discokugel drehte und wahllos Gesichter, Brüste, Ellbogen, nackte Rücken, Hintern und Mähnen blonden Haars aufblitzen ließ. Der Saal hatte eine Klimaanlage, doch auf den Körpern, die ihre chemischen Botschaften verströmten, glänzte eine leichte Schweißschicht. Die hormonellen Düfte überlagerten sogar die der künstlichen Parfüms, während sich die Paare in dem schummerigen Licht eng umschlungen im Kreis drehten. Die Musiker der Band wirbelten im Rhythmus der Musik über die Bühne. Lucy dachte an die Nächte der Regentänze im Wald, in denen die Älteren Äste abrissen, wilde Sprünge vollführten und damit alle anderen aufforderten, sich ihnen anzuschließen.
Mit ihren kleinen athletischen Körpern passten Weston und Lucy genau zusammen, wie zwei verschränkte Hände. Westons Becken war gegen Lucys gepresst, und ihr blieb, so schien es, gar nichts anderes übrig, als diesen Druck zu erwidern, wenn sie nicht hintenüberkippen wollte von den unsichtbaren Kräften, die zwischen ihnen herrschten. Dann, gerade als Lucy dachte, dass sie explodieren oder ohnmächtig werden könnte von all den Fliehkräften, Pheromonen und Lichtern, war es vorüber. Allzu bald erstrahlte der Saal wieder in hellem Licht. Und sie waren einmal mehr nur eine wahllos zusammengewürfelte Gruppe von Jungen und Mädchen, die sich blinzelnd umsahen und zu begreifen versuchten, was gerade geschehen war.
Später, auf dem Heimweg in der Limousine mit Weston, |254| Amanda und Matt, dachte Lucy: Ich könnte mich an dieses Leben gewöhnen. Ich könnte einen Jungen lieben lernen. Sie versuchte sich vorzustellen, was ihr Vater im Sinn gehabt hatte, als er sie erschuf. Hatte er angenommen, dass sie all dies nicht haben wollte? Lucy hatte ihn voraussetzungslos geliebt, weil er ihr Vater war, ihr Lehrer. Und jetzt wurde sie manchmal traurig und wütend, wenn sie dachte, dass sie vielleicht nichts weiter als ein kleiner Teil seines großen Plans war. Aber nein, dachte Lucy. Sie hatte schöne Erinnerungen daran, was für ein guter Vater er gewesen war. In ihrem Herzen wusste sie, dass er sie geliebt hatte. Es stand in seinen Notizbüchern, neben seinen tiefen und wachsenden Zweifeln über das, was er tat. »Was, wenn ich nicht da bin, wenn sie mich braucht?«, hatte er einmal geschrieben. Und an Lucys zehntem Geburtstag: »Was für ein wunderbares Kind hat der Wald uns geschenkt!« Er hatte sie geliebt, daran zweifelte sie nicht. Doch es war alles so verwirrend. Sie wünschte sich, sie hätte nur einmal in sein Hirn kriechen können, um zu erfahren, wer er wirklich war.
Die Limousine setzte Weston zu Hause ab, und auf den Stufen küssten sie sich. Weston presste sich an Lucy, und sie spürte die gleiche erregende Woge von ihren Beinen in den Bauch aufsteigen, die sie gespürt hatte, als sie zum ersten Mal miteinander rangen. Am liebsten hätte sie ihn auch hier zu Boden gerungen und sich auf ihn geworfen, ein Gedanke, der sie mitten in ihrem Kuss laut auflachen ließ. Doch das tat ihr schon im nächsten Moment leid, denn ihr Lachen hatte ihn offensichtlich verlegen gemacht. Er musste gedacht haben, dass sie über seinen Kuss lachte. Lucy wurde klar, dass sie diesen Augenblick vollkommen zerstört hatte. »Es tut mir leid«, stammelte sie. »Entschuldige, Wes. Ich hab nicht über dich gelacht, das schwöre ich.« Aber er
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