Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
vergessen. Das schlechte Gewissen meldete sich.
»Ich kann es dir ja jetzt zeigen. Wenn es deine ... Freunde nicht stört.«
»Bestimmt nicht.«
Georgie sagte »Tschüs, bis morgen!« und verzog sich. Die Mutter blickte ihm schweigend nach, bis er die Tür geschlossen hatte. Anne stellte sich ans Fenster, guckte hinaus, dann sagte sie: »Ich geh jetzt auch, habe dich genug verwöhnt. Du kannst gerne mein leckeres Essen haben.« Sie reichte der Mutter die Hand und ging.
Jetzt war es ruhig.
Die Mutter öffnete die Handtasche, die auf ihrem Schoß lag, und entnahm ihr einen Umschlag. Sie zog eine Broschüre aus dem Umschlag, festes glänzendes Papier, sie sah teuer aus. Auf der Titelseite eine Villa, riesig, mit Park und Bäumen, im Hintergrund ein See, am Himmel wenige weiße Wolken. Im Park sah man Menschen, alte Menschen, als Stachelmann genauer hinschaute. Darüber stand: »Seniorenheim Lebensglück«. Die Mutter reichte Stachelmann die Broschüre.
Der blätterte darin, ohne zu wissen, was er sagen sollte. Es beklemmte ihn. Natürlich verstand er, was es bedeutete. Oder nicht? »Da willst du hin?«
»Ich weiß nicht«, sagte die Mutter. »Da musst du mitreden. Es ist teuer, aber wenn ich das Haus verkaufe, reicht es. Nur bleibt dann weniger für dich. Oder nichts, wenn ich noch eine Weile lebe. Außerdem, du bist in dem Haus aufgewachsen. Und Vati ...«
An das Erbe hatte Stachelmann nie gedacht. Es setzte voraus, dass die Mutter starb. Das war unvermeidlich, aber er wollte es sich nicht vorstellen. Sein Vater hatte das Haus nach dem Krieg gekauft. Stachelmann fragte sich, woher er das Geld hatte als Postbeamter. Gut, gehobener Dienst, günstige Kredite für Beamte. Die Dienstjahre aus der Nazizeit mitgerechnet, einschließlich seiner kurzen Zeit als eine Art Hilfspolizist, die ihn vor der Ostfront bewahrt hatte. Aber er wollte nicht mehr über den Vater sprechen, schon gar nicht mit seiner Mutter, die es nie verwinden würde, dass sie sich nicht ausgesprochen hatten vor dem Tod des Vaters. Und wahrscheinlich auch, dass Stachelmann nach der Beerdigung noch nie das Grab auf dem Reinbeker Waldfriedhof besucht hatte.
»Und warum willst du dorthin?«
»Dafür gibt es mehrere Gründe.« Sie klang klar, und Stachelmann erkannte, dass sie sich die Gründe wohl schon zurechtgelegt hatte. »Erstens bin ich allein. Zweitens fällt mir vieles schwer, ich war früher beweglicher. Drittens kann ich nicht mehr gut laufen und Auto fahren schon gar nicht. Dafür sehe und höre ich zu schlecht trotz Brille und Hörgerät. Ich glaube, es ist einfach an der Zeit.«
Stachelmann überlegte, ob ein Vorwurf in dem steckte, was seine Mutter sagte. Ob er sich mehr hätte kümmern müssen um sie. Aber dann verstand er, seine Mutter warf ihm nichts vor, sie zog nüchtern eine Schlussfolgerung aus dem Zustand, in dem sie lebte und von dem Stachelmann nur wenig wusste.
»Wann?«
»Im Herbst. Zum 1. Oktober. Jedenfalls hätten sie dann was frei.«
Stachelmann begriff, seine Mutter hatte die Krebsoperationen einigermaßen überstanden. Sonst hätte sie keine so weit reichende Entscheidung getroffen. Warum umziehen, wenn man sowieso bald sterben würde? Die Einsicht erleichterte ihn. Sie hatten wenig gesprochen über den Krebs, und er hatte sie vernachlässigt, als sie im Krankenhaus gelegen hatte. Damals beschäftigte er sich mit Ossis Tod und noch mehr mit sich selbst, als er nach Heidelberg fuhr, wo er zusammen mit Ossi studiert hatte.
»Ich helfe dir beim Umzug«, sagte er.
»Musst du nicht. Kannst ja ohnehin nicht tragen. Das meiste muss ich verkaufen oder verschenken. Ich werde es wohl der Arbeiterwohlfahrt geben. Wenn dir etwas einfällt, das du brauchen kannst, sag Bescheid.«
Sie erhob sich, es bereitete ihr Mühe. Sie packte die Broschüre wieder ein, drückte ihm die Hand und ging.
Endlich Ruhe.
Er bedachte die Möglichkeiten, die ihm blieben. Nenn sie besser Pseudomöglichkeiten, denn du weißt nicht, was wirklich passieren würde, wenn du dieses oder jenes tätest.
Irgendwann schlief er ein. Mitten in der Nacht wachte er auf, es war jemand im Zimmer gewesen. Seltsam, er spürte keine Angst, obwohl auf den Polizeischutz kein Verlass war. Im Traum erschien ihm Brigitte, unverletzt, sie lachte und schaute ihn an aus großen Augen. Ihr Mund formte Worte, er glaubte, dass sie »Schade!« sagte. Schade um was?
Als er aufwachte, fühlte er sich kräftiger. Der Rheumaschmerz plagte ihn, es war wie sonst. Stachelmann stand
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