Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
auf, ging ein paar Schritte, beugte sich vorsichtig nach vorn und nach hinten, um die Steifigkeit loszuwerden, rieb sich den Schleier von den Augen und erschrak, als die Tür aufplatzte und eine Schwester hereinstürzte. Sie war klein und schlank, und sie hatte ein verhärmtes Gesicht. Aber ihre Augen blickten ihn freundlich an. Sie hatte die Tür aufgelassen, und Stachelmann sah einen Polizisten auf einem Stuhl an der Tür sitzen.
»Ich glaube, heute können Sie nach Hause«, sagte die Schwester. Der Polizist hörte mit und lächelte. Es war ihm gewiss langweilig geworden.
Später erschienen mehrere weiß gekleidete Männer, die Visite. Der Chefarzt, groß, beleibt, Halbglatze, weiße Haare, Lesebrille fast auf der Nasenspitze, fragte, wie es Stachelmann gehe, und bot ihm an, das Krankenhaus zu verlassen. »Die Herren werden ja auch draußen auf Sie aufpassen«, schnodderte er.
Als sie gegangen waren, zog Stachelmann sich um und legte den Krankenhausschlafanzug aufs Bett. Als er die Tür öffnete, stand der Polizist auf. »Gehen Sie nach Hause oder auf Ihr Revier«, sagte Stachelmann. »Es muss niemand auf mich aufpassen.«
»Aber ...«
»Ich möchte es nicht«, sagte Stachelmann und ging an dem Mann vorbei. Wie sollte der ihn vor einem Mörder schützen, der sich auf ein Dach legte und mit einem Gewehr schoss?
Er fuhr mit einem Taxi zu Anne, trank Tee mit ihr, doch arbeitete sein Kopf an dem Fall. Auch Anne war ratlos, was das Motiv des Mörders sein könnte. Dass er Stachelmanns Arbeit nicht veröffentlicht sehen wollte, das schien klar. Aber warum?
Dann fragte sie: »Ob der eifersüchtig ist auf dich? Ein Abbrecher? Einer, der sich auch habilitieren wollte, es aber nicht geschafft hat?«
Das war so wahrscheinlich wie jede andere Möglichkeit, und er hatte auch schon daran gedacht. »Könntest du dich schlau machen, ob es so einen Fall gibt?«
Er setzte sich an ihren PC und rief die Diskussionsgruppe auf. Sie war nach unten gerutscht in der Auflistung, und es gab keinen neuen Eintrag. Eine Art indirekte Bestätigung dafür, dass Brigitte die Hauptverantwortliche gewesen war für diese Kampagne. Gewiss hatte sie es ihm gestehen wollen. Aber was konnte den Mörder daran gestört haben? Dieser Mord schien ihm nur erklärbar, wenn noch ein handfestes Motiv hinzukam. Zum Beispiel Eifersucht, wie Anne es gesagt hatte. Ja, warum nicht Eifersucht? Sie konnte Bohming fragen, der musste wissen, ob jüngst ein Kollege gescheitert war an der Habilitation. Ob sie sich in Gefahr brachte dadurch? Kaum. Nein, er musste sich keine Sorgen machen.
Am Abend ging er zu Georgie. Er fand es seltsam, auf eine Klingel zu drücken, deren Schild behauptete, dass auch Brigitte hier wohnte. Der Summer tönte, und Stachelmann stellte sich vor, wie es wäre, wenn Brigitte an der Wohnungstür warten würde. Niemand wartete, die Tür war angelehnt. Stachelmann hörte Stimmen in der Küche. Halil war da, Georgie trank ein Bier. Die Kaffeemaschine lief. Georgie wies auf einen Stuhl ihm gegenüber, Halil nickte nur kurz und beschäftigte sein Hirn dann mit etwas anderem.
»Frankie kommt immer zu spät«, sagte Georgie. »Dafür bleibt er dann gern länger.« Aber richtig lachen konnte er nicht. Stachelmann überlegte, ob Halil betrunken war, jedenfalls glotzte er die beiden anderen an, dann starrte er zur Decke und blies Luft aus durch geschlossene Lippen.
Es klingelte. Georgie stand auf und ging hinaus. Nach einer Weile hörte Stachelmann Frankies Stimme, dann kam der in die Küche und gab jedem die Hand. Frankie war unrasiert und sah auch sonst nicht so aus, als hätte er sich intensiv gepflegt. Er nahm eine Tasse aus dem Schrank und goss sich Kaffee aus der Glaskanne ein, die auf der Wärmeplatte der Maschine stand. Er setzte sich hin, Halil glotzte ihn eine Weile an. Dann sagte Georgie: »Also, was machen wir?«
»Wir sagen einfach mal die Wahrheit. Brigitte war E.T., und ihr habt mitgemacht bei dieser bekloppten Geschichte. Das habt ihr mir verschwiegen« – er schaute Georgie scharf an –, »weil ihr Schiss bekommen habt wegen der Schüsse. Aber jetzt ist Schluss mit lustig.«
Keiner antwortete, und Stachelmann begann zu bereuen, sich mit diesen Kerlen getroffen zu haben, die offenbar so versumpft waren, dass sie nicht mehr denken konnten. Und Mumm hatten sie auch nicht.
»Bitte nicht drängeln, meine Herren.«
»Gut«, sagte Georgie. »Also, Frankie, spuck's aus.«
Frankie starrte abwechselnd Stachelmann und Georgie an.
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