Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
durch die Tür. Die Angst nässte ihm den Körper. Er beobachtete durch den Spion, wie ein Beamter seinen Ausweis aus der Brusttasche der Lederjacke nestelte und ihn so hielt, dass Stachelmann ihn sehen konnte. Er zögerte, schließlich konnte er den Ausweis in der Weitwinkeloptik nicht lesen, dann öffnete er die Tür. Die Polizisten betraten den Flur. Stachelmann bildete sich ein, die beiden schon einmal gesehen zu haben.
»Wir haben den Auftrag, ein wenig auf Sie aufzupassen. Wundern Sie sich also nicht, wenn ein Dienstfahrzeug vor der Tür steht«, sagte der eine Polizist, dick und groß, aber mit erstaunlich heller Stimme.
»Wer hat Sie beauftragt?«
»Die Hamburger Kollegen. Genaueres weiß ich nicht. Nur, dass ein Irrer auf Sie geschossen hat und es vielleicht wiederholt.«
»Danke«, sagte Stachelmann.
Die beiden zogen ab, und Stachelmann schloss die Tür. Er kehrte zurück ins Wohnzimmer und setzte sich wieder aufs Sofa. Dass er nun bewacht wurde, beruhigte ihn nicht. Im Gegenteil, es unterstrich, wie ernst seine Lage war. Schon wieder. Es war gerade ein paar Monate her, dass er sich mit Verbrechen und Verbrechern herumschlagen hatte müssen, nun ging es wieder los. Warum konnte er nicht endlich in Ruhe arbeiten? Er hatte genug zu tun. Jetzt musste er sehen, dass er sich bewarb, sofern Bohming nicht doch sein Versprechen wahr machte, ihn demnächst als Nachfolger einzusetzen. Auf einem kleinen Umweg über eine andere Uni, wie der Ordinarius gesagt hatte. Weil Hausberufungen nicht möglich waren. Wahrscheinlich hatte Bohming so getönt, weil er glaubte, Stachelmann werde nie fertig mit seiner Habilitation. Jedenfalls hatte der Sagenhafte in letzter Zeit kein Wort mehr darüber verloren. Aber das Manöver musste jetzt eingeleitet werden, sonst war Stachelmann über kurz oder lang arbeitslos. Arbeitslose Privatdozenten und Professoren gab es genug. Sie würden ihm den Vertrag noch einmal verlängern, gewiss. Und dann? Aber im Augenblick wollte er nicht einmal das, er wollte einfach nur weg.
Er hatte nur Ärger und Sorgen. Lohnte sich ein solches Leben? Lohnte es sich? Er dachte an Ossi, seinen Freund bei der Kriminalpolizei, der tot war. Der hatte es hinter sich. Aber die Trübnis lenkte ihn nur kurz ab von der Angst.
In der Nacht schlief er kaum. Was meinte E.T., als er schrieb, man solle sich den Philosophenturm anschauen? Stachelmann war ungeduldig. Welchen Anschlag plante dieser Irre jetzt? Würde er wieder herumballern? Gegen vier Uhr am Morgen kam ihm eine Idee. Er würde E.T. antworten in dieser Diskussionsgruppe, er würde ihn stellen. Aber dann fiel ihm ein, dass der Zitate aus seiner Arbeit veröffentlichen wollte. So lange musste Stachelmann warten, denn wenn es wirklich Zitate waren, dann konnte er darauf eingehen. Musste er vorher die Polizei fragen? Er schüttelte den Kopf auf dem Kissen. Nein, das war seine Sache. Aber wenn er E.T. dadurch reizte, brachte sich Stachelmann dann nicht noch mehr in Gefahr? So gut war die Idee doch nicht. Nein, er würde weiter warten und schauen, was geschah. Vielleicht würde sich demnächst eine Gelegenheit ergeben, etwas zu tun. Er fiel in einen unruhigen Schlaf.
Die Gelenke waren steifer als sonst, als er aufwachte. Er stützte sich aufs Bett beim Aufstehen. Er beugte und streckte Arme und Beine, bis er sich beweglicher fühlte. Da fiel ihm der Anrufer von der Bild-Zeitung ein. Was würde sie schreiben in großen Lettern? Im Bademantel ging er die Treppe hinunter zum Briefkasten und überflog die Lübecker Nachrichten, während er die Treppe hochstieg. Auf der Titelseite ein Bericht über die »Schießerei an der Hamburger Universität«. Die Schlagzeile ärgerte ihn, es klang so, als hätten Leute aufeinander geschossen. Dabei hatte ein Irrer sich den Von-Melle-Park als Menschenjagdrevier ausgesucht. Stachelmann setzte sich an den Küchentisch und las den Artikel konzentriert. Etwa in der Mitte wurde angedeutet, dass die Schüsse möglicherweise einer Lehrkraft des Historischen Seminars gegolten hatten. Die Polizei verfolge aber auch andere Spuren. Sie halte es für wahrscheinlich, dass der Täter ein ehemaliger Bundeswehrsoldat sei. Stachelmann musste grinsen. Wie viele Millionen Männer hatten das G3 in der Grundausbildung bei der Bundeswehr bedienen gelernt? Und wie viele Leute im Ausland hatten Unheil angerichtet mit diesem Gewehr? Da konnte die Polizei ewig ermitteln. Aber für so dumm hielt er Taut und seine Kollegen nicht. Sie hatten der Presse
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