Lügen & Liebhaber
anstehenden Familienzusammenführung möchte er hiermitoffiziell die Verantwortung und Fürsorge für seine Kinder Thomas und Sylvie ganz ihm, dem verehrten Herrn Helmut Kichermann, übertragen.
Mein Bruder fing an zu lachen – vielleicht hatte mein Vater das tatsächlich als Scherz gemeint, aber ich konnte beileibe nichts Lustiges daran finden. Meine Mutter und ich wechselten einen flüchtigen Blick. Ich war mir sicher, sie empfand genauso wie ich und verwünschte den Moment, in dem sie ihren Exmann eingeladen hatte.
Man applaudierte, nicht gerade Standing ovations, aber emphatischer als bei meinem Bruder, wobei sich wieder mal das Vorurteil bestätigte, daß mein Vater eben ein Show-Man war. Charme und Bluff – mit diesen beiden hervorstechenden Eigenschaften hatte er sich auch an die Spitze der Fin-de-siècle-Forscher katapultiert.
Es war kein Akt der Entscheidung, sondern eine rein spontane Aktion, als ich mir wenig später unter den erstaunten Blicken der Gäste meinen Vater schnappte und ihn aus der Halle zerrte. Ich hätte mit allem gerechnet, nur nicht damit, daß er es so völlig widerstandslos über sich ergehen ließ.
Draußen bekam er eine rosarote Gesichtsfarbe, und bevor er etwas sagen konnte, herrschte ich ihn an: »Du hältst jetzt deinen Mund!«
»Was … was ist bloß mit dir los, Sylvchen?« Die Röte in seinem Gesicht war augenblicklich einem wächsernen Cremeton gewichen.
»Dir ist wirklich nicht zu helfen«, sagte ich schroff. »Und weißt du was? Ich wäre dir äußerst dankbar, wenn du auch deinen jährlichen Anruf bei mir einstellen würdest.«
Mein Vater öffnete den Mund, wollte wohl etwas von sich geben, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Ich brauche dich nicht, Horst«, fuhr ich fort, während ich das Gefühl hatte, mein Herz würde ein paar Takte lang aussetzen. »Ich will dich nicht mehr in meinem Leben.« Mit diesen Worten rauschte ich zurück in den Festsaal und wunderte mich, daß mich meine gummiartigen Beine überhaupt noch trugen.
Schon lange war es fällig gewesen, meinem Vater einmal die Meinung zu geigen, eigentlich hätte ich es schon tun sollen, als ich vor neunundzwanzig Jahren das Licht der Welt erblickt hatte.
Jetzt war es raus, es gab nichts mehr hinzuzufügen, und vor allen Dingen lag mir nichts daran, weiterhin auf diesem Fest gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Aber da es unfair gewesen wäre, meiner Mutter diesen großen Tag zu vermiesen, blieb ich. Einen Moment hoffte ich, mein Vater würde nach dem Eklat Frau und Kids einpacken und das Weite suchen, aber den Gefallen tat er mir leider nicht. Statt dessen klammerte er sich an meinen Bruder, wohl um ihm ein paar Liebesbeweise abzutrotzen.
Keine Ahnung, wie ich das anschließende Festessen in Finkenwerder durchstand. Wahrscheinlich schaffte ich es auch nur, weil Onkel Ferdinand die Tischkarten vertauscht und sich einfach neben mich gepreßt hatte, um mich fortan mit seinen unterhaltsamen Geschichten abzulenken. Ich wußte nicht, wer mir eigentlich als Tischpartner zugedacht worden war, aber ich tippte auf meinen Vater. Onkel Ferdinand war nämlich ein schlaues Kerlchen, und wenn er vielleicht auch nicht genau wissen konnte, was vorgefallen war, hatte er doch sensiblere Antennen, als man ihm bei seiner gewichtigen Erscheinung zutraute.
So gesehen hatte die Hochzeit meiner Mutter genau den Effekt bei mir, der eigentlich dem Brautpaar vorbehalten sein sollte: Sie war das Ende von etwas und zugleich der Beginn eines neuen, hoffentlich besseren Lebensabschnittes, und daß ich wieder einen über den Durst getrunken hatte, verbuchte ich unter der Rubrik einmalige Verfehlungen. Immerhin fand ich mich am nächsten Morgen nicht in der Notaufnahme eines Krankenhauses wieder, sondern wachte ganz normal verkatert in meinem Bett auf.
*
Ja, ich buhlte weiterhin um Karls Freundschaft und nicht nur das, ich fragte ihn sogar, ob er mit mir für ein verlängertes Wochenende nach Madrid fliegen würde – auf rein platonischer Basis natürlich. Da war es bereits März, und ich hatte zwei einsame und bei H & M sinnlos vergeudete Monate hinter mich gebracht, nicht ohne täglich mehrmals an Toni zu denken und mich nach ihr zu sehnen. Einmal war ich ihr an der Oper über den Weg gelaufen – sie arbeitete schon länger in der Solistengarderobe, so daß es für sie ein leichtes war, mir aus dem Weg zu gehen –, doch gerade, als ich die Hand heben wollte, um ihr zuzuwinken, hatte sie sich schon aus dem Staub gemacht.
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