Lügen mit Zahlen: Wie wir mit Statistiken manipuliert werden (German Edition)
verunglückt, aber Hunderttausende bei Tempo 50. 6
Dürfen wir noch etwas konsequenter sein? Wir empfehlen Tempo 400, denn unseres Wissens ist noch nie jemand bei Tempo 400 im öffentlichen Straßenverkehr verunglückt – vielleicht sind Unfälle bei diesem Tempo ja physikalisch unmöglich . . .
Abstrus? Sicher – aber anscheinend nicht abstrus genug. Denn es gibt tatsächlich immer wieder statistische Argumentationen dieser Art. Eine solche habe ich im September 2006 selbst erlebt. Bei einer Diskussionsveranstaltung der Süddeutschen Zeitung in München über den »Angstfaktor Demografie« und Bildungspolitik wollte der damalige nordrhein-westfälische Familienminister Armin Laschet (CDU) beweisen, wie mutig sich seine Landesregierung den Herausforderungen der Zukunft gestellt habe: »Wir haben in NRW 1000 zusätzliche Lehrer eingestellt .« 7 Die stolzgeschwellte Brust war unverkennbar, die Bildungsmisere schien abgewendet.
Etwas ironisch drückte ich meine Bewunderung aus: »Tausend Lehrer, klasse! Das ist ja eine große Menge!« Freundchen, mit dieser absoluten Zahl turnst du aber gefährlich auf dem Glatteis, funkte mein Gehirn, zum Glück nicht laut. »Wie viele Schulen gibt es denn in Nordrhein-Westfalen?«, fragte ich stattdessen, und unser Eistänzer schwankte bedenklich. Laschets Auffangversuch, er habe die Zahlen gerade nicht parat, kam kurz vor dem Sturz. Ein Professor aus Rheinland-Pfalz – zumindest vom Dienstort – konnte aushelfen: »Es sind knapp 7000 öffentliche Schulen.« Und bevor ich weiterrechnen durfte, reagierte das Publikum mit deutlichem Raunen. Die Leute hatten verstanden: Gerade einmal jede siebte Schule konnte sich über einen zusätzlichen Lehrer freuen. Und der
Herr Minister hatte nach dieser unerwarteten Wendung sichtlich Mühe, seine weiteren Argumente glaubwürdig an den Mann und die Frau zu bringen.
Hier haben wir Fälle, in denen eine absolute Zahl, etwa die Anzahl der Kartoffeln, wenig aussagt oder sogar in die Irre führt, wenn wir zum Beispiel nichts über die Größe des Ackers erfahren, von dem der Bauer sie geerntet hat. Zu den (frei erfundenen) 28 Unfällen müssen wir wissen, wie viel Zeit deutsche Autofahrer bei Tempo 200 und mehr verbringen. Zu den 1000 Lehrern müssen wir wissen, auf wie viele Schulen sie sich verteilen.
Ähnlich problematisch verhält es sich mit internationalen Ländervergleichen und überhaupt mit vielen Rangfolgen (Rankings), die heute in Mode sind. Das Wirtschaftsministerium setzt uns eine absolute Milliardenzahl vor und verkündet – zumindest bis zur Finanzkrise – stolz: Deutschland schon wieder Exportweltmeister! Man verschweigt uns, dass Deutschland mit seinen offiziell gut 80 Millionen Einwohnern im internationalen Maßstab ein recht großes Land ist. In einem Vergleich der Exportleistungen pro Einwohner rutscht der »Weltmeister« auf Platz 16 ab – was immer noch ein sehr guter Platz ist, bei 168 untersuchten Ländern. 8 Ganz vorne auf der Liste stehen aber andere: Singapur, die Vereinigten Arabischen Emirate und Hongkong; Norwegen folgt als erstes europäisches Land auf Platz 5. Auch die Schweiz liegt mit Platz 10, Österreich mit Platz 14 noch vor dem großen Nachbarn im Norden.
Allerdings hat auch die Pro-Kopf-Betrachtung ihre Tücken, da kleine Länder (und besonders Stadtstaaten wie Singapur und Hongkong) wegen ihres beschränkten Binnenmarktes unweigerlich mehr mit den Nachbarn handeln müssen.
Dass sich auch Linke auf solche statistischen Kniffe verstehen, bewies der Politologe und frühere PDS-Abgeordnete Winfried Wolf. 2009 behauptete er in einem Aufsatz, die Arbeitslosigkeit in Deutschland habe 2008 wieder ähnliche Ausmaße angenommen wie in den großen Krisenjahren 1929 – 1932, und führte als Beleg an, dass die absoluten Zahlen eine vergleichbare Größenordnung haben. Dabei ließ er außer Acht, dass das vereinigte Deutschland inzwischen viel mehr Einwohner hat (gut 80 statt rund 65 Millionen), dass die Familien damals im Schnitt viel größer waren und dass die Erwerbsquote der Frauen damals kleiner war als heute. Das bedeutet aber: Wenn damals ein Arbeiter arbeitslos wurde, gerieten dadurch in der Regel viel mehr Menschen in Not als heute. Wir kommen also hier um einen Vergleich relativer Zahlen, zum Beispiel der Arbeitslosenquoten, nicht herum. Wolf bediente sich gewollt oder ungewollt dieses Tricks, um mehr Aufmerksamkeit auf das Problem der heutigen Arbeitslosigkeit zu lenken.
Das folgende persönlich
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