Lügen mit Zahlen: Wie wir mit Statistiken manipuliert werden (German Edition)
suchte für ihn in der Zentrale einen internen Arbeitsplatz und gab einer Hochschulabsolventin, Frau Clever, eine Chance zum Berufseinstieg. In ihrer Bewerbung hatte er gelesen: Studienabschluss an der FH in Remagen, Hauptseminar »Statistiken lesen, Lügen erkennen« bei Prof. Dr. G. Bosbach, Note 1,0. Da sie sehr überzeugend auftrat, dachte er sich nichts weiter dabei. Sieben Monate später bekam er von Frau Clever dann folgenden Erfolgsbericht auf den Tisch: »Durchschnittliche Verkaufszahlen in den beiden Bielefelder Filialen in den ersten sechs Monaten gesteigert: Bielefeld-Nord um 16,7 Prozent auf 7000 verkaufte Bilderrahmen pro Mitarbeiter, Bielefeld-Süd um 6,7 Prozent auf 13 333.« Na bestens! Der Direktor klopfte sich ob der hervorragenden Wahl der neuen Gebietsleiterin auf die Schulter, wandelte den Zeitvertrag umgehend in einen unbefristeten Vertrag für Frau Clever um und rieb sich vergnügt die Hände.
Beim Jahresabschluss öffnete er voller Vorfreude die Daten aus Bielefeld. Aber was war das? Die Verkaufszahlen waren ja genauso mau wie im Vorjahr! Kein einziger Mehrverkauf! Auch die Monatszahlen wiesen keinerlei Absatzsteigerung in Bielefeld aus. Der Direktor tobte: »Betrug! Diese saubere Frau Clever hat mich betuppt – die fliegt sofort raus«, und kündigte ihr fristlos. Vier Tage später trudelte ein Widerspruch
des Rechtsanwalts ein, der Frau Clever vertrat. Bei der Lektüre wurde der Direktor, eben noch rot vor Wut, zunehmend blass. Die aufgeführten Zahlen belegten die Erfolgsmeldung, die Frau Clever nach sechs Monaten abgegeben hatte, haarklein. Bezogen auf den Durchschnitt ihrer Mitarbeiter hatten beide Filialen tatsächlich ihren Umsatz um die genannten Prozentsätze erhöht. Obwohl unterm Strich kein einziger Bilderrahmen mehr verkauft worden war, und – da witterte der Direktor noch einmal kurz Morgenluft und schaute ganz genau hin – obwohl sich auch die Anzahl der Mitarbeiter nicht verkleinert hatte. Der Direktor rieb sich drei Mal die Augen: Heiliger Adam Riese, das kann doch nicht sein!
Und doch, ob Sie’s glauben oder nicht: Es kann sein.
Hier sind die (vereinfachten) Zahlen:
Das Will-Rogers-Phänomen: Die Umsetzung eines Mitarbeiters von Filiale Süd in Filiale Nord hebt in beiden Filialen die Verkaufsleistung pro Mitarbeiter.
Wir nehmen in diesem Beispiel an, jeder Mitarbeiter hätte im zweiten Halbjahr 2010 genauso viele digitale Bilderrahmen verkauft wie im ersten Halbjahr. Frau Clever hat also überhaupt nichts am Absatz verändert. Sie hat lediglich den Mitarbeiter mit 10 000 verkauften Rahmen aus Bielefelds Süden in Bielefelds Norden versetzt. Dadurch stieg in beiden Filialen der durchschnittliche Pro-Kopf-Absatz.
Diese Methode funktioniert immer dann, wenn man in der besseren Filiale einen Mitarbeiter findet, der dort unter dem Durchschnitt liegt, aber über dem der schlechteren Filiale. Wenn man den in die schlechtere Filiale versetzt, steigt in beiden Filialen der Durchschnitt; denn die gute Filiale verliert einen unterdurchschnittlichen Mitarbeiter, der den Durchschnitt gedrückt hatte, und die schlechte Filiale gewinnt einen überdurchschnittlichen, der den Durchschnitt anhebt. Vorausgesetzt, die Verkaufsleistung des versetzten Mitarbeiters bleibt gleich.
Der Erste, der dieses merkwürdige statistische Phänomen beschrieben hat, war kein Mathematiker, sondern der amerikanische Schauspieler, Philosoph und Komiker Will Rogers. Der wollte eigentlich nur einen Witz machen, als er in den 1920er-Jahren die gewagte Behauptung aufstellte: »Als die Okies Oklahoma verließen und nach Kalifornien gingen, erhöhten sie den Intelligenzquotienten in beiden Staaten.« 1
Rogers, der selbst ein Okie war, also aus Oklahoma stammte (er war übrigens ein gebürtiger Cherokee), wollte damit anscheinend andeuten, dass nur die dümmsten Einwohner Oklahomas während des Goldrauschs um 1850 nach Kalifornien gingen, dass sie aber immer noch intelligenter waren als die meisten Kalifornier.
Ganz so einfach wie in unserem Joypix-Beispiel stellt sich
die Realität allerdings nur selten dar. In der Regel dürfte jener Mitarbeiter X, wenn er in ein schlechteres Absatzgebiet versetzt wird, dort weniger verkaufen als vorher im guten Absatzgebiet. Auch die Versetzung als solche wirkt sich vielleicht zunächst negativ auf die Verkaufsleistung des Mitarbeiters aus. Es gibt aber durchaus Felder, auf denen das Will-Rogers-Phänomen zum Alltag gehört, zum Beispiel das dreigliedrige deutsche
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