Luegenbeichte
Tag ein dicker, zäher Klumpen und sie steckte mittendrin. Nichts bewegte sich, nicht mal die Zweige vor dem Fenster. Die Straßen waren leer, die Schüler in der Schule, die Kinder im Kindergarten. Das rot-weiße Flatterband am Trampelpfad war auch nicht mehr da. Es war ein Montagmorgen wie letzte Woche auch, nur war Lou da noch da.
Ihre Mutter rief an, aber Josi wollte jetzt nicht mit ihr reden.
»Nein, noch keine Neuigkeiten. – Ja, ich sage dir dann Bescheid.«
Josi ging zurück in ihr Zimmer, setzte sich an den Schreibtisch und stützte das Kinn auf die Hände. Ihr Kopf war schwer, die Arme auch, wie damals, als Mama sie das letzte Mal getragen hatte. Seit der letzten Nacht hatte sie Mamas vorwurfsvolle Worte wieder ganz klar im Ohr: »Ein Kind spürt so was doch!« Ja, Barbara hatte, auch als Josi noch klein war, immer alles klar und deutlich thematisiert, im Gegensatz zu Thomas, der nie so recht wusste, wann der richtige Augenblick war, um Dinge auszusprechen. Deswegen sagte er lieber gar nichts oder er erklärte stundenlang, als hätte er selbst nichts damit zu tun, wie in einer Vorlesung. Wenn sie nur irgendwas trösten könnte, aber sie war kein kleines Kind mehr, das sich an einem Stofftier ausheulte, wie damals mit ihrer Giraffe Gina. Gina gab es schon lange nicht mehr für sie. Die hatte sie Robert geschenkt, als sie mit Mama nach Kreuzberg zog und er in eine neue Familie kam.
Ihr Handy klingelte. Max erschien auf ihrem Display.
»Nein, Max, er ist noch nicht wieder da.«
»Gehst du nicht in die Schule?«
»Nein.«
»Ich muss erst zur Zweiten hin und habe nur vier Stunden, könnte gegen eins bei dir sein. Wenn du willst, auch schon früher. Ich muss da nicht mehr hin.«
»Ja.«
»Ja was?«
»Eins ist okay.«
»Ich freu mich auf dich, Josi.«
»Und ich mich auch auf dich, Max.«
8:39
Josi holte den Detektivkoffer unter dem Bett hervor. Sie wollte sich diese Stöckel noch mal näher angucken. Sie öffnete das Köfferchen, ja, kein Zweifel, es waren tatsächlich Absätze von High Heels, sieben Stück – verschieden lang, verschieden dick, verschiedene Farben, aber an jedem Absatz hatte Erde geklebt, als wäre jemand mit Stöckelschuhen über einen Acker gestiefelt. Wo hatte Lou sie nur her? Waren es etwa Absätze von alten High Heels seiner Mutter? Lou spielte manchmal mit Marinas Schuhen, benutzte sie für seine Transformer als Absprungrampe oder verwandelte sie selber in Transformer und raste mit ihnen über den Teppich.
Alle Absätze waren sauber abgetrennt, wahrscheinlich abgesägt. Hatte er sie etwa abgesägt, mit seiner kleinen Laubsäge, weil er sie für irgendwas brauchte? Hatte er nicht von Stöckchen geredet, die ausgelegt wurden, damit die Kinder wieder nach Hause finden?
Wann war das gewesen? Gehörte das zur Geschichte mit dem fiesen Mann und dem Holzbein? Oder zu der Piratengeschichte? Nein – die Piraten hatten sie am Samstagnachmittag noch gemeinsam erledigt. Abends fing er dann mit dieser Detektivgeschichte an, von den beiden Brüdern, Marvin und Nick, die von dem fiesen, alten Mann entführt worden waren und einfach nicht entkommen konnten. Aber dann war Herr Rufus ihnen mit der Mücke auf der Spur. So weit, so gut. Dann war Max gekommen. Und dann hatte Lou mit Max und den Transformern gespielt, aber hatte er nicht auch noch was gesagt, dass Herr Rufus die Jungs gerettet hatte und irgendwelche Stöckchen ausgelegt hatte, damit er aus dem tiefen Wald wieder herausfand?
Nicht so doof wie bei Hänsel und Gretel, die nur Brotstückchen ausgelegt hatten. Die Stöckel konnten die Vögel nicht fressen.
Sie hielt die Luft an. Hatte Lou wirklich »Stöckel« gesagt?
Die Stöckel waren auf jeden Fall in Lous Detektivkoffer, den auch Herr Rufus benutzte. Woher hatte er sie? Vielleicht von einem Schuster? Sie sollte Marina fragen.
Sie fuhr mit dem Finger über die Stellen, wo die Absätze abgetrennt worden waren. Konnte man mit einer Laubsäge überhaupt so sauber arbeiten?
8:54
In der Schule hätten sie jetzt Mathe. Thomas fuhr auch nicht in die Uni. Sie war allein mit ihm zu Hause, in seinem Zuhause. Josi kam sich in Zehlendorf manchmalnur wie Besuch vor, als ob sie gar nicht zur Familie dazugehörte. Ob es Robert damals auch so ergangen war, als er zu ihnen kam? Er hatte Thomas vergöttert, gleichzeitig sein Wort gefürchtet; und von Barbara hatte er sich von vorne bis hinten betuddeln lassen. Mama tat das Kind unendlich leid, das nicht mal von seiner leiblichen Mutter
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