Luegenbeichte
zu werden. Sie hörte, wie Herr Werner in den Drehsessel plumpste. Eine seiner Krücken fiel dabei auf den Boden. Er ächzte. Wahrscheinlich versuchte er, sie im Sitzen aufzuheben. Dann fiel die andere Krücke auch noch hin.
»Lassen Sie doch verdammt noch mal diese Dinger liegen und zeigen Sie mir endlich, was Sie mir so dringend zeigen müssen.« Da war etwas in Thomas' Stimme, was sie noch nie gehört hatte, mehr als Wut und Ärger, irgendwas Gebrochenes – Angst. Aber wovor hatte Papa Angst?
Josi wagte noch einen Blick, sah ihn neben Herrn Werner stehen, mit der Schulter zum Fenster. Herr Werner raschelte mit ein paar Blättern. Eine Ameise lief Josi über den nackten Fuß, es kitzelte. Sie schüttelte sie ab. Die Biene war noch immer in der Kleeblüte versunken, nur ihr gestreifter Hinterleib guckte noch raus. Warum hatte sie bloß das Gefühl, dass Papa genauin die Mitte des Netzes rannte, das Herr Werner ihm gerade webte?
»Schauen Sie, dieser Kalender hier. Da steht am siebzehnten Juni: Thomas kommt . Und am einundzwanzigsten heißt es: Vorlesung Thomas . Am vierundzwanzigsten: Thomas, zwanzig Uhr, Noi-Quattro. Und dann diese Smileys und Herzen überall.«
Josi sah, wie ihr Vater sich über den Kalender beugte, dann drehte er sich ruckartig um. Josi sprang zur Seite. Plötzlich brannte es in ihrem Zeh, als wäre sie in einen glühenden Zigarettenstummel getreten. Beinahe hätte sie aufgeschrien. Verdammt, die Biene hatte sie gestochen. Sie hockte sich hin und nahm ihren Fuß in die Hand. Da sah sie den kleinen schwarzen Stachel mit der Giftblase. Josi fasste den Stachel mit den Fingernägeln und zog ihn heraus. Die Biene krabbelte benommen im Gras herum. Sie würde jetzt sterben, ohne Stachel, wegen ihr. Josi biss sich auf die Lippe. Der Schmerz zuckte durch ihren kleinen Zeh und verteilte sich im ganzen Fuß.
»Was meinen Sie, wie viele Leute namens Thomas es an der FU gibt?«, hörte Josi ihren Vater. »Also, ich kenne schon mal einen Kollegen, Professor Schaunmann, der mit Vornamen ebenfalls Thomas heißt. Bei ihm war übrigens vorgestern die Party. Ganz zu schweigen von den Studenten. Haben Sie das schon alles überprüft, Herr Kommissar?«
»Hauptkommissar«, betonte Herr Werner. Einen kurzen Moment war es still, dann fuhr er fort: »Brauchen wir nicht zu überprüfen. Sie sollten am besten wissen, wovon die Rede ist! Also, reden wir nicht länger umden heißen Brei herum, Herr Herzberg. Hier, schauen Sie, was wir noch gefunden haben: vier Passfotos in Schwarz-Weiß, mit Lilli Sander und Ihnen.« Es entstand eine Pause. Josi traute sich nicht zu atmen.
»Möchten Sie sie nicht sehen, Herr Herzberg?«
»Nein!«
Sie musste Papa retten, ging es ihr durch den Kopf, vor dem fiesen Mann mit dem Holzbein, aber sie konnte sich nicht rühren.
»Gut, dann lassen Sie mich beschreiben, was darauf zu sehen ist«, sagte Herr Werner.
Josis Herz raste. Der Schmerz breitete sich immer weiter aus und zog jetzt bis ins Bein. Sie schloss die Augen.
»Auf dem ersten Foto küssen Sie Frau Sander auf die Wange«, hörte sie Herr Werner. »Auf dem zweiten Foto schon auf den Mund. Auf dem dritten tun Sie etwas, was wir nicht genau sehen. Vermutungen, dass Sie ihr die Bluse hochschieben, bestätigen sich jedoch auf dem vierten Foto, auf dem Frau Sander mit entblößter Brust zu sehen ist.«
»Wie prüde sind Sie denn?«, platzte Thomas los. Dann versuchte er zu lachen. Josi hielt sich die Ohren zu, aber sie konnte ihn trotzdem noch hören. »Da war nichts. Ein feuchtfröhlicher Abend. Ein kleine Affäre zwischen einer Studentin und ihrem Professor. So was kommt vor. Punkt. Das macht mich noch lange nicht zum Mörder!«
Tränen rannen Josi über die Wangen. Sie kroch unter dem Fenster entlang und humpelte zur Terrasse, von dort lief sie ins Haus. Marina kam ihr entgegen, mitden Autoschlüsseln und einer Flasche Wasser in der Hand.
»Was ist passiert?«, fragte sie, als sie Josi sah. »Ist was mit Lou …?«
»Nein«, sagte Josi und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Vom Flur aus ging die Bürotür auf, sie hörte das Handy von Herrn Werner klingeln.
»Ich bin in eine Biene getreten.« Josi wischte sich die Tränen ab. Thomas kam ins Wohnzimmer.
»Im Kindergarten ist er auch nicht«, sagte Marina. Thomas sah leichenblass aus.
»Was ist?« Marina ging auf ihn zu.
»Nichts.«
»Natürlich ist was, das sehe ich dir doch an.«
Im Hintergrund hörte Josi Herrn Werner telefonieren. Es dauerte, bis er aus dem Büro
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