Luegenherz
wieder selbst in den zweiten Stock steigen.«
»Hmm, vielleicht hat er sich beim Absturz ja am Kopf verletzt.« Sie überlegt einen Moment, dann gibt sie sich einen Ruck und zwinkert mir zu. »Der Schlüssel liegt nämlich immer unter dieser Fußmatte. Aber von mir haben Sie das nicht.« Sie dreht sich mit einer anmutigen Pirouette um und schließt die Tür.
Ich gehe zur Fußmatte und tatsächlich, da liegt ein Schlüssel.
Gerade als ich mich danach bücke, macht sie ihre Tür wieder auf und kommt zu mir. »Sie müssen die Tür fest zu sich ranziehen, wenn sie den Schlüssel umdrehen, sonst geht die nicht auf – in diesem Haus klemmen alle Türen ganz fürchterlich.«
Diesmal wartet sie, bis ich es geschafft habe, dann schwebt sie widerwillig zurück in ihre Wohnung, wirft mir noch einen nachdenklichen Blick zu und ich fürchte, wenn ich rauskomme, lädt sie mich zu einem Kaffee ein.
Mir ist ein bisschen mulmig bei dem Gedanken daran, dass ich hier in eine fremde Wohnung eindringe, und ich schleiche deshalb leise und vorsichtig wie ein Einbrecher. Es riecht komisch, nach Staub und Moder und Schweiß und feuchter Erde. Vom Flur gehen zwei Zimmer ab, ich nehme das linke und spähe hinein. Oh Gott, was ist das denn? Ich schaue schnell wieder weg und renne zurück in den Flur. Mein Herz rast. Da baumeln Leichen von der Decke!
Das kann nicht sein, beruhige ich mich, das würde doch sonst stinken. Aber es riecht wirklich sehr seltsam hier, behauptet eine Stimme in meinem Kopf, dieselbe Stimme, die auch sagt: Mach, dass du hier rauskommst, und zwar sofort! Aber eine andere widerspricht: Du spinnst, warum sollten hier Leichen von der Decke baumeln? Das hier ist schließlich kein Horrorfilm, Ally.
Ich atme also tief durch und gehe noch mal in das Zimmer zurück. Näher hin zu den baumelnden Körpern – und stelle fest, dass es keine Leichen sind, sondern nur Schlaze, die von der Decke hängen und wahrscheinlich zum Trocknen mit Papier ausgestopft wurden. Mein Herzschlag beruhigt sich, während ich mich in dem Raum umsehe. Am anderen Ende des Zimmers kann ich ein Regal erkennen, in dem Schleifsäcke, Helme mit Lampen, Karabiner, Gurte und Seile, Handschuhe und Wanderstiefel aufbewahrt werden.
Erleichtert schleiche ich in den anderen Raum, wo es neben einem durchgesessenen blauen Samtsofa auch einen alten Schreibtisch samt Computer und Drucker gibt. An den Wänden hängen Höhlenquerschnitte, Höhlenaufrisse und Landkarten mit roten Fähnchen drin. Außerdem sind überall Fotos von Höhlen. Aber ich sehe keine Ordner, in denen ich vielleicht Mitgliedsadressen finden könnte.
Ich fühle mich immer unbehaglicher – was ist, wenn jemand kommt und mich erwischt? Ich halte den Atem an und lausche. Nichts. Okay, dann muss ich wohl an den Computer. Ich setze mich auf den klapprigen Bürostuhl und schalte den Rechner ein. Es dauert ewig, bis er hochgefahren ist. Gefühlte hundert Jahre. Dabei macht er Geräusche, die bestimmt im ganzen Haus zu hören sind. Ungeduldig trommle ich mit den Fingern auf die Tischplatte und bete, dass diese alte Mühle nicht auch noch passwortgeschützt ist. Gespannt schaue ich auf den Monitor. Wow, was ist das? Der Bildschirm öffnet sich und gibt den Blick in eine riesige Tropfsteinhöhle frei. Endlich habe ich auch mal Glück! Allerdings dauert es ewig, bis ich so etwas wie eine Mitgliederliste gefunden habe, diese Cave-doctors scheinen echte Spaßvögel zu sein. Die Liste findet sich nämlich unter dem Dateinamen Lebende und ausgestorbene Höhlentiere.
Von Tom Linder gibt es nur eine Handynummer, doch mehr brauche ich gar nicht. Ich bin so aus dem Häuschen, dass ich sofort mein Handy raushole und seine Nummer eintippe.
Ein leises Geräusch hinter mir lässt mich herumfahren. Es ist die alte Dame von nebenan.
Aber jetzt lacht sie mich nicht mehr so freundlich an. Sie schwingt einen riesigen Hammer in ihrer rechten Hand. Sofort fallen mir alle Horrorfilme ein, die ich jemals gesehen habe. Eine verrückte Alte, die unschuldige Leute in diese Wohnung lockt und dann umbringt …
»Ähhh, was tun sie da?«, frage ich schockstarr und starre wie ein hypnotisiertes Kaninchen auf den Hammer.
»Wollte nur sichergehen, dass Sie nichts stehlen. Wissen Sie, das sind wirklich so nette junge Männer. Die trinken immer mal eine Tasse Tee mit mir und erzählen von ihren Abenteuern. Aber Mädchen hab ich hier noch nie gesehen, deshalb kam mir Ihre Geschichte, nachdem ich darüber nachgedacht habe,
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