Luegenherz
gedacht, sie wäre ein Opfer und ich müsste sie schützen. Aber sie war gar kein Opfer, denn ein Opfer weiß, dass es Opfer ist, aber meine Mutter ist einfach nur ahnungslos und ihre Ahnungslosigkeit macht mich rasend. Und wenn ich ihren demütig gesenkten Kopf sehe, könnte ich kotzen.
Es bestärkt mich darin, endlich etwas zu unternehmen. Dem Ganzen ein Ende zu setzen.
27. Ally
Ich habe alle Linders durchtelefoniert, nirgends wohnt ein Tom oder Thomas Linder. Und bei der Telefonnummer, die im Impressum der Cave-Doctors angegeben ist, meldet sich nur ein Anrufbeantworter. Und je länger ich versuche, diesen Tom ausfindig zu machen, desto unruhiger werde ich. Immer stärker habe ich das Gefühl, dass sich irgendetwas Schreckliches zusammenbraut.
Ich beschließe, jetzt sofort nach Augsburg zu fahren und zu der Adresse dieser Cave-Doctors zu gehen. Schnell suche ich die bravsten Klamotten, die ich finden kann; einen Jeansrock und eine ärmellose weiße Spitzenbluse – darin sehe ich etwas vertrauenswürdiger aus als in schwarzem Leder. Nachdem ich bei diesem Kletterverein war, werde ich zu Blumen Weigand gehen und noch mal versuchen, mit Mila zu reden.
Eine halbe Stunde später bin ich am Hauptbahnhof und stelle fest, dass ich mir eine schlechte Zeit zum Zugfahren ausgesucht habe. Es ist nicht nur der heißeste Sommertag aller Zeiten, nein, es ist auch noch Freitagmittag, am Hauptbahnhof wimmelt es von Pendlern, die nach Hause wollen, und von Leuten, die übers Wochenende wegfahren.
Dauernd werde ich angeschubst, hektische Reisende ziehen ihre Koffer nur knapp an meinen nackten Füßen vorbei und zu allem Überfluss streift ein widerlicher Köter an meinen nackten Beinen entlang. Es ist so heiß, dass sich beim Atmen flüssige Hitze in den Lungen auszubreiten scheint. Die Klamotten kleben feucht am Körper und trotzdem fühle ich mich wie ausgetrocknet.
Wegen der Hitze sind sämtliche ICEs und ICs, die sonst nach Augsburg fahren, ausgefallen. Alle Pendler warten auf einen Bummelzug, der aber auch schon eine halbe Stunde Verspätung hat.
Cola, ich brauche eine Cola! Ich drängle mich zu den Automaten auf dem Bahnsteig durch. Leer, total leer. Ich überlege kurz, ob ich es riskieren soll, zu einem der Kioske oder in den Supermarkt zu rennen, aber bei meinem Glück kommt genau dann der Zug. Außerdem, was für eine Idee: rennen! Bei der Hitze ist schleichen schon zu anstrengend.
Ich laufe wieder Richtung Gleise und sehe aus dem Augenwinkel, wie sich gerade jemand an den Leuten auf dem Bahnsteig vorbeiquetscht, der mir bekannt vorkommt. Sieht aus wie Landgraf. Im ersten Moment möchte ich mich am liebsten wegducken, schließlich war ich seit unserem Höhlentrip nicht mehr in der Schule. Aber dann wird mir klar, dass ich ihn nach Mila fragen könnte. Nein, nicht könnte, dass ich ihn nach Mila fragen muss. Wenn ich weiterkommen will, muss ich mit ihm reden. Dringend.
Deshalb quetsche ich mich in seine Richtung vor, was mir böse Blicke der Wartenden einbringt. Gerade als ich ihn fast erreicht habe, fährt der Zug ein und der gesamte Bahnsteig fängt an, sich hektisch in Bewegung zu setzen, wie ein überdimensionaler Ameisenhaufen. Ich werde mit zu den Türen geschwemmt und verliere Landgraf wieder aus den Augen.
Na egal, ich werde ihn während der Fahrt suchen. Aber bis ich drin bin, ist der Zug so voll, dass es völlig undenkbar ist, bei diesen Menschenmassen durch die Abteile zu streifen.
Während der Zugfahrt konzentriere ich mich aufs Atmen, es ist viel zu heiß, um auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Außerdem stinken die schwitzenden Menschen und aus der Toilette wabert ein ekelhafter Geruch. Als der Zug in Augsburg einfährt, bin ich am ganzen Körper in Schweiß gebadet und lechze nach einer Dusche.
Beim Aussteigen suche ich den Bahnsteig nach Landgraf ab, vergeblich. Aber der Bahnhof hat nur einen Ausgang, deshalb postiere ich mich dort in der Hoffnung, dass er nach mir aus dem Zug ausgestiegen ist.
Ich muss nicht lange warten, da stürzt er an mir vorbei. So schnell, dass ich hinter ihm herrennen muss. Er geht zum Parkplatz, wo er offensichtlich ein Auto stehen hat, denn ich erwische ihn erst, als er die Fahrertür aufgemacht hat. Es ist nicht der weiße Renault Megane, mit dem er mich zum Klettern abgeholt hat, sondern ein alter hellblauer VW-Käfer.
»Hallo, Tobias.«
Er wendet sich mir zu, seine Gesichtszüge entgleisen für einen Moment, aber nur so kurz, dass ich nicht sicher bin, ob
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