Luegenherz
Schicksal loslegen wollte, klingelte es an Allys Tür und ihr eingebildeter, aber leider verdammt gut aussehender Bruder stand draußen am Tor. Obwohl Ally immer so tut, als fände sie ihn lästig und grauenhaft, konnte ich deutlich fühlen, wie sehr sie sich über seinen Besuch gefreut hat. Noch bevor er über den Hof bis zur Wohnung gekommen war, hat sie sich hektisch das verheulte Gesicht gewaschen und sich plötzlich aufgeplustert und mich dann so stolz präsentiert, als wäre ich ihr Hund. Ich war kurz davor, sie zu fragen, ob ich Männchen machen soll.
Jury hat so getan, als würden ihn Allys neueste Schmuckkreationen interessieren, aber in Wirklichkeit hat er mich ziemlich misstrauisch abgecheckt. Es hat ihn gewundert, dass ich da war, und das wiederum hat mich nervös gemacht. Kennt er mich von irgendwoher? Immerhin hat er angeblich ein fotografisches Gedächtnis – und das könnte sich als äußerst fatal erweisen. Er studiert Jura und Medizin, weil ihn ein Studium allein nicht ausfüllt, und dann geht er auch noch zum Kitesurfen und Klettern (oder Bouldern, wie er das nennt) und ist deshalb durchtrainiert und braun gebrannt.
Wenn ich Ally wäre, würde ich diesen Perfektling abgrundtief hassen. Auch weil er der Sohn ist. Ich weiß, Väter lieben ihre Söhne mehr, weil sie der definitive Beweis ihrer Potenz sind. »Ein Haus bauen, einen Sohn zeugen«, hieß es doch früher und ich bin sicher, insgeheim denken sie alle immer noch so. Vielleicht wäre zu Hause auch alles anders, wenn ich ein Junge wäre.
Jedenfalls fand ich Jury dermaßen unerträglich, dass ich dann bald gegangen bin, ohne zum Ziel gekommen zu sein. Später hat Ally mir noch gemailt, aber da war sie schon wieder mies drauf, weil ihr Bruder nichts zu ihren Entwürfen für den Silberwettbewerb gesagt hat. Jury hätte mich aber ziemlich sexy gefunden. Ich würde in sein Beuteschema passen, meinte Ally. Mila, du bist klein und zierlich, dunkelhaarig und du warst frech zu ihm. Das gefällt ihm, weil es ihn langweilt, dass die meisten Mädchen ihn anhimmeln .
So ein Unsinn! Ich war nur so ätzend, weil ich ihn loswerden wollte. Das Komische ist, dass ich seitdem das Gefühl habe, jemand würde mir folgen. Allys Bruder könnte mir tatsächlich gefährlich werden. Was, wenn er rauskriegt, wer ich wirklich bin?
Auf der Zugfahrt von Augsburg nach München hatte ich heute ständig den Eindruck, dass mich jemand anstarrt, doch immer, wenn ich mich umgedreht habe, war niemand zu sehen. Und eben auf dem Weg zu Ally hatte ich auch dauernd so ein Kribbeln im Nacken. Aber warum sollte ihr Bruder mir folgen? Er würde mich eher zur Rede stellen, als mir nachzuspionieren. Außerdem sieht er so dermaßen unverwechselbar aus mit den breiten Schultern, dem schwarzen kurzen Haar und seinem braunen Teint, den würde ich schon von Weitem sofort erkennen. Ein letztes Mal drehe ich mich um, wieder ist kein Mensch zu sehen.
Endlich stehe ich vor Allys Tor. Als ich klingle, kommt sie sofort rausgeschossen und winkt mir zu. Sie trägt ihre dunkelblaue Goldschmiedeschürze und aus ihrem Haarzopf hängen blonde Strähnen wirr um ihren Kopf. Sie wirkt total zerknittert, so als ob sie die ganze Nacht nicht geschlafen hätte.
»Stress?«, frage ich. »Etwa eine Großbestellung Bauchnabelpiercings für die Mannschaft vom 1. FC Bayern?«
Ihre Mundwinkel verziehen sich etwas, aber sie lacht nicht wirklich. Sie dreht sich wortlos um und geht rein. Drinnen ist ein einziges Chaos, so habe ich ihre Werkstatt noch nie gesehen.
»Hey, was ist denn hier los?«
»Einer meiner Lehrer hat heute meinen Entwurf für eine Brosche in der Luft zerrissen.« Es sprudelt nur so aus ihr heraus, dabei geht sie die ganze Zeit auf und ab und rauft sich die Haare. »Die Brosche wäre nicht mal retro, sondern nur epigonenhaft. Ich wusste überhaupt nicht, was das ist, und musste erst mal nachschauen. Das sind Leute, die sich an andere drankleben, Trittbrettfahrer ohne eigene Ideen.« Ally kickt gegen ihre Werkbank. »Der spinnt doch, ich bin kein Trittbrettfahrer! Und jetzt habe ich bis Montag Zeit, um mir etwas Neues zu überlegen. Dabei sind Broschen sowieso schon so was von spießig.«
Sie wirft sich auf ihren Drehhocker und starrt missmutig auf die Werkzeuge, die überall herumliegen. Dann nimmt sie einen dicken Borstenpinsel und kehrt damit die Arbeitsfläche in den Lederschurz, der am Tisch angebracht ist, damit nur ja kein Milligramm Gold oder Silber verloren geht.
Ich muss sie
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