Lügennetz: Thriller (German Edition)
Sechs-Minuten-Teilen angezeigt wurden, so wie wir korporativen Witzbolde unseren Mandanten die Zeit in Rechnung stellten.
Als ich schließlich doch auf den Bildschirm sah, zuckte ich zusammen. Justin Harris war immer noch da. Nichts hatte sich geändert, rein gar nichts. Er war immer noch schwarz.
Was den Kohl auch nicht fett machte. Harris war nämlich eindeutig nicht der Mann, der versucht hatte, mich an dem Abend, als ich aus Key West geflohen war, zu töten. Der unheimliche, muskulöse Spinner, der mir eine Waffe in die Nase gesteckt hatte, war eindeutig weiß, höchstens mit asiatischem Einschlag, gewesen.
Während ich den schwarzen Mann mit Kinnbart anstarrte, kam ich zu dem Schluss, dass hier genau einer der Fälle eingetreten war, wegen denen die Mission NYC rettet Leben gegründet worden war: Die Behörden von Florida hatten einen Unschuldigen zum Tode verurteilt.
Mit einem unguten Gefühl im Magen klickte ich auf den Link zum letzten Artikel im » Miami Herald « . Nachdem ich den ersten Absatz gelesen hatte, stieß ich mich vom Schreibtisch ab und ließ meine Stirn auf die lackierte Kante fallen.
Die Hinrichtung würde am 29. April stattfinden? Das war nächsten Freitag! Justin Harris würde in neun Tagen sterben.
Sofern ich nichts dagegen unternahm.
Ich begutachtete noch eine Weile den strapazierfähigen Berberteppich zwischen meinen Schuhen, um den Gedanken zu verarbeiten. Dann stöhnte ich laut auf.
Ich war der einzige Mensch, der das bewerkstelligen konnte.
Ich würde mich zu erkennen geben müssen. Das war ungerecht, nachdem ich es so lange geschafft hatte, den Deckel auf der Dose voller Würmer, die sich mein Leben nannte, geschlossen zu halten. Mich zu erkennen zu geben würde heißen, dass ich alle meine schmutzigen, kleinen Geheimnisse ein für alle Mal verriet, einschließlich meiner Rolle beim Tod von Ramón Peña.
Ich würde meine Arbeit verlieren, alles, wofür ich gekämpft hatte.
Und was wäre mit Emma? Ihr Leben wäre ruiniert. Adieu, du Traum vom MoMa-Praktikum. Adieu, Brown College. Und dann noch: adieu, Emmas Vertrauen in mich. Wie sollte das funktionieren?
Und schon wieder beging ich den Fehler, zum Bildschirm zu linsen. Justin Harris’ Blick wirkte verschreckt wie der eines Rehs, das in entgegenkommende Scheinwerfer starrt, und seine traurigen Augen schien er direkt auf meine Seele gerichtet zu haben.
Ich hatte keine Wahl. Das Leben eines Mannes stand auf dem Spiel. Ich würde auspacken müssen.
60
Man sagt, ein Anwalt, der sich selbst vertritt, hat einen Narren zum Mandanten.
Dieser Satz beschrieb mich bis aufs i-Tüpfelchen.
In der nächsten Stunde nutzte ich meinen scharfsinnigen Anwältinnenverstand, um meine gegenwärtige Situation zu überdenken. Ich begann mit der schriftlichen Auflistung einer detaillierten Schadenseinschätzung. Anschließend machte ich mir Notizen unter verschiedenen fröhlichen Überschriften: » Freunde, die ich verlieren würde « (ziemlich alle); » Wahrscheinliche rechtliche Folgen « (Rauswurf aus Kanzlei; Verlust der Anwaltszulassung). Dann ergänzte ich noch » Verjährungsfrist bei Totschlag « (?) und » Emma « (unter Obhut des Jugendamtes?).
Meine Lesebrille saß auf meiner Nasenspitze, während ich in meinem zuverlässigen » McKinney’s « blätterte. Plötzlich schob ich die Brille nach oben in mein Haar und knallte das Buch auf den Tisch.
Es gab tatsächlich noch eine andere Möglichkeit.
Die war allerdings wahnsinnig. Absolut durchgeknallt. Ganz zu schweigen davon, dass sie tierisch riskant war. Klar war sie das. Wahnsinn und Risiko gehörten in meinem Leben zusammen wie Ben und Jerry.
Was wäre, wenn ich den Fall mit meiner Freundin Mary Ann tauschte? Was wäre, wenn ich Harris’ Fall übernähme?
Ich könnte immer noch die Fäden in der Hand behalten. Vielleicht könnte ich sogar eine Möglichkeit finden, Harris freizubekommen, ohne mein Leben und vor allem das von Emma zu zerstören. Harris war nicht der Mörder! Das wusste ich. Daher musste in dem Fall etwas übersehen worden sein, was seine Unschuld bewies. Es ging also nur darum, dieses Etwas zu finden und dem Gericht vorzulegen.
» Ja, aber unten in Key West « , meldete eine leise Stimme in mir ihren Widerspruch an.
Stimmt, das war der Knackpunkt. Ich würde mich mit Harris’ Anwalt beraten müssen, der dort wohnte, wo ich auf keinen Fall hinwollte. Allein der Gedanke, noch einmal einen Fuß an diesen wunderschönen, gefährlichen Ort zu setzen, weckte in
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