Lügennetz: Thriller (German Edition)
Gewissen packte, holte ich Emma von der Tagesstätte ab und fuhr mit ihr auf der PATH -Linie nach Hoboken. Dort rief ich von einem Münztelefon an der I-95 das FBI in New York an und gab dem Anrufbeantworter eine Beschreibung des Fallschirmmörders sowie seines Hundes und seines Autos.
Im Lauf der Jahre überlegte ich ab und zu, dasselbe mit Peter zu tun, hatte aber immer Angst, er könnte mich dank seiner Kontakte bei der Polizei ausfindig machen. Der Anruf würde sich nachverfolgen lassen. Peter würde erfahren, dass ich nicht tot war, und nach mir und Emma suchen.
Ich stieß den Atem aus und setzte mich schließlich an den Schreibtisch. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn, als ich an den Fallschirmmörder dachte. Das Büro schien zurückzuweichen, und da war ich wieder, obdachlos, schwanger, auf der Flucht in einem Paar gebrauchter Doc Martens.
Nach einer Weile versuchte ich mich zu trösten. Es hätte auch noch schlimmer kommen können. Zumindest war mir der Fallschirmmörder-Fall nicht zugewiesen worden. Dem Problem war ich eindeutig entkommen.
Was regte ich mich also so auf? Ich brauchte mich nur auf meinen eigenen Fall zu konzentrieren. Meinen Kopf einzuziehen und zu hoffen, dass Mary Ann mich nicht erkennen würde. Die ganze Sache würde vorübergehen wie ein Sturm.
Ich nahm die schwere Akte zu Randall King, ließ sie auf meinen Schreibtisch fallen und öffnete sie sogar.
Nein, ich durfte mir nichts vormachen.
Ich schob die Akte beiseite und schaltete meinen Rechner ein, öffnete eine Suchmaschine und tippte » Justin Harris « ein. Den Bruchteil einer Sekunde später schob ich das Haar aus meinen schockiert blickenden Augen.
Harris’ Verhaftung zehn Jahre zuvor war tatsächlich ein großes Medienereignis gewesen. Es gab Dutzende von Zeitungsartikeln, sogar immer wieder Fernsehbeiträge in » Today « über Harris’ bevorstehende Hinrichtung. Nachrichten sah ich mir eher weniger an, aber » Today « ? Warum war mir das entgangen?
Ich hatte es nicht wissen wollen. Darum. Ich hatte mich siebzehn Jahre lang nicht um den Fallschirmmörder gekümmert, hatte nicht einmal versucht herauszufinden, was mit Peter passiert war. Ich wusste, das war kindisch, doch ich dachte, es gäbe so etwas wie karmische Wechselseitigkeit, wenn ich aufhörte, daran zu denken. Jeder, an den ich nicht mehr denken würde, würde auch nicht mehr an mich denken. Unterbewusst hatte ich gehofft, die Sache durch Vergessen ungeschehen zu machen.
Doch all das war passiert, dachte ich, als ich verbittert auf den Bildschirm starrte. Und es ließ sich nicht ungeschehen machen.
Ich rief eine aufgezeichnete Nachrichtengeschichte aus dem Jahre 2006 auf und ließ meinen Finger über der linken Maustaste schweben, um sie abzuspielen, als meine Sekretärin, Gloria Walsh, eintrat. Mit einem schuldbewussten Klick minimierte ich rasch das Fenster.
» Ich dachte, du müsstest gleich zu dieser ProGen-Prospekt-Besprechung « , sagte sie.
» Tom hat mich auf einen ehrenamtlichen Fall angesetzt « , erwiderte ich. » Ich bin raus aus ProGen. «
Gloria freute sich. » Vielleicht komme ich dann diese Woche mal vor sieben nach Hause. Was Interessantes? «
Nein, eher lebensbedrohend, dachte ich.
» Ja, schon. Ich bin da gerade an einer Sache dran. Ich geb dir dann Bescheid, ja? «
Ich drehte die Lautstärke auf, als Gloria die Tür hinter sich geschlossen hatte. Shepard Smith beendete ein Intro über den Fallschirmmörder. Ich holte tief Luft, um mich gegen die Gegenüberstellung mit dem Mann zu wappnen, der damals versucht hatte mich zu töten.
Doch als das Bild von Justin Harris erschien, drückte ich verblüfft die Pausentaste.
Weil der Mann auf dem Bildschirm nicht der Fallschirmmörder war, der mich viele Jahre zuvor auf dem Übersee-Highway mitgenommen hatte.
Auf dem Bild mit der Unterschrift » Justin Harris « war ein mit orangefarbenem Overall bekleideter, traurig dreinblickender, durch und durch afroamerikanischer Mann zu sehen.
59
Verwirrt atmete ich langsam ein und aus, um mich zu beruhigen. Ich sah überall hin auf meinem Schreibtisch, nur nicht auf den Bildschirm. Ich las aufmerksam die schicke Goldprägung auf der in Leder gebundenen Ausgabe von » McKinney’s New York Civil Practice Law and Rules « , lächelte das gerahmte Bild von Emma und mir auf unserem Skiausflug letzten Januar nach Vermont an. Eine Weile beobachtete ich sogar den Minutenzeiger der witzigen Anwaltsschreibtischuhr, auf der die Stunden in zehn
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