Luegnerin
Augen.«
Er küsste mich auf beide Augenwinkel und auf die Nasenspitze mit seinen trockenen, weichen Lippen.
Hinter uns ertönte ein lautes Krachen.
Wir wandten uns um.
Der größte der Eiszapfen lag in Hunderte von Eissplittern zerborsten da. Ich bückte mich und hob eines der größten Stücke auf. Es war kalt und die Bruchkante war messerscharf.
FAMILIENGESCHICHTE
Dad ist bei zwei verrückten weißen Frauen aufgewachsen, die sich über die Erbkrankheit der Familie Gedanken machten und darum, wie man die Apfel- und die Heuernte steigern und wie man erreichen konnte, dass die Tiere auf der Farm länger lebten, und ob die Kinder zu viel Freiheit oder gerade richtig viel Freiheit auf der Farm hatten.
Großmutter hatte nur das eine Kind. Großtante Dorothy und Großonkel Hilliard hatten sechs. Wenn er nicht gestorben wäre, wären es vermutlich noch mehr geworden. Vier davon hatten die Familienkrankheit. Deswegen unterrichteten sie alle ihre Kinder zu Hause. Dad nicht, der hatte auch die Krankheit nicht. Er ging mit einem Stipendium auf ein Internat in Connecticut, wo er einer von nur fünf schwarzen Schülern war. Die er alle nicht mochte. Er blieb für sich und benahm sich damit doch mehr wie ein echter Wilkins, als er selber wahrhaben wollte. Er lernte Französisch und las so viel er konnte über Frankreich, vor allem über Marseille. Denn alles, was er über seinen Vater wusste, war, dass der ein französischer Seemann aus Marseille war.
Dad ist nach Frankreich gefahren, als er achtzehn war. Hat sich seine Überfahrt dorthin als Matrose auf einem Handelsschiff erarbeitet, was er furchtbar fand. Er hat seinen Vater nicht gefunden. Stattdessen aber jede Menge hübsche französische Mädchen. Darunter auch meine Mutter. Er hat sie mit nach Hause gebracht, wenn auch nicht ganz bis raus aufs Land. Er hat in New York haltgemacht und ist dort geblieben.
Mom ist nie nach Frankreich zurückgekehrt. Wenn ich sie frage, ob sie Heimweh hat, lacht sie.
Hier ist sie Lehrerin. Sie unterrichtet Französisch, während Dad schreibt. Er ist ein professioneller Lügner, sagt Mom. Selbst seine journalistischen Sachen sind lauter Lügen. Reiseberichte. Kritiken von Hotels,Wellness-Ressorts und Ferienanlagen. Wenn sie ihm genug zahlen, schreibt er, was immer sie hören wollen.
Er ist viel weg. Wenn er weg ist, streiten sie nicht so viel.
Ich erzähle niemandem von unserer Familie. Schon gar nicht den Psycho-Leuten wie Jill Wang.
Ich spreche auch nie über die Familienkrankheit, die ich von Dad vererbt bekommen habe.
NACHHER
Sarah folgt mir von der Schule bis nach Hause. Sie glaubt, sie kann dabei unbemerkt bleiben.
Sie hat es geschafft, sich immer einen Block hinter mir zu halten, seit wir die Schule verlassen haben. Aber auf dem Weg zwischen der Schule und unserer Wohnung sind an Wochentagen nicht so viele Leute unterwegs. Und deswegen schaue ich an jeder Kreuzung, bevor ich abbiege, zurück und kann sie sehen. Schließlich warte ich hinter einer Ecke.
Sarah biegt ab und da stehe ich und starre sie an.
»Oh!« Sie weicht mehrere Schritte zurück und schaut woanders hin. »Oh.«
»Naaaa«, sage ich.
»Ich …«, setzt sie an und blickt kurz zu mir auf, während sie die Hände unter die Riemen ihres Rucksacks steckt und den linken Fuß auf dem Bordstein aufstellt.
»Du …«, sage ich genau in ihrem Tonfall. Sie errötet und senkt den Blick.
»Ich wollte …«
Um Sarahs Unwohlsein noch zu steigern, halte ich den Blick fest auf sie gerichtet.
»Ich wollte …«, sagt Sarah. »Ich wollte nur …«
Sarah scheint den Rest ihres Satzes immer noch nicht zu finden, deswegen helfe ich ihr auf die Sprünge. »Du wolltest mir nur folgen?«
»Ja«, sagt sie mit unerschütterlicher Ehrlichkeit. »Ich wollte mal sehen, wo du wohnst.«
»Warum?«, fragte ich. Sie sieht mich noch immer nicht an.
»Ich hab gehört, dass er dich zu Hause besucht hat.« Dabei zieht sie die rechte Hand unter dem Riemen ihres Rucksacks hervor und wischt sie an ihrem Rock ab, bevor sie sie wieder darunterschiebt. »Ich wollte es nur mal sehen.«
»Was wolltest du sehen? Ihn mit mir? Er ist tot, falls du es vergessen haben solltest.«
Sarah schüttelt den Kopf und schwenkt ihre schweren offenen Locken hin und her. Sie hält den Blick noch immer gesenkt.
»Und was wolltest du sehen, Sarah? Unser Mietshaus von außen?Von drinnen? Mein Zimmer?«
Sie blickt auf. Ihre Augen sind groß und feucht. »Ja«, sagt sie. »Nein. Vielleicht. Ich weiß
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