Luegnerin
nicht. Ich hab es eigentlich gar nicht bis zu Ende durchgedacht.«
»Dann komm«, sage ich und mache auf dem Absatz kehrt. Ich bin versucht, einfach loszurennen und sie weit hinter mir zu lassen. Stattdessen gehe ich schnell die Second Avenue entlang. Sie muss sich mühen, mit mir Schritt zu halten.
NACHHER
»Dein Schreibtisch ist so groß«, sagt Sarah Washington und schaut sich um. »Der ist ja größer als dein Bett.«
Eigentlich ist der Schreibtisch gar nicht so groß, aber das Zimmer ist klein. In jeder anderen Stadt in Amerika wäre es ein Wandschrank und kein Zimmer. Der Schreibtisch, der Stuhl, das Bett und das Regal daneben sind die einzigen Möbel. Ich setze mich aufs Bett und ziehe die Beine unter mich. Ich sitze eigentlich lieber auf dem Boden, aber Sarah steht auf dem einzig freien Platz.
Sie entdeckt das silberne Päckchen mit den winzigen Pillen neben meinem Bett, hebt es auf und starrt es an, dann streckt sie mir die Packung entgegen. Ihre Augen sind zu feucht. Eine Träne quillt heraus und dann noch eine. Wie es wohl ist, wenn man so leicht weint?
»Du hast mit ihm geschlafen, stimmt’s?«
»Die sind für meine Haut«, erkläre ich ihr.
»Für deine Haut?« Sie lässt sie wieder fallen, als könnte sie sich daran vergiften. »Du nimmst die Antibabypille für deine Haut ?«
Ich nicke. Komisch, wie oft die Wahrheit sich wie eine Lüge anfühlt und die Lüge wie eine Wahrheit. »Ich hab Akne. Wenn ich die Pille nehme, hab ich keine Akne mehr. Das kannst du nachschlagen.«
»Du hast also nie mit ihm geschlafen?«, fragt sie und betont dabei jedes Wort.
Das hatte ich nicht gesagt. »Nein«, antworte ich.
»Und warum hast du dann seinen Pulli?«, fragt sie, diesmal viel lauter. Sie quetscht sich an meinem Bett vorbei zum Schreibtischstuhl, über dessen Lehne der Pulli hängt. Sie hält ihn sich an die Nase. Auch sie kann ihn riechen. Aus ihren Augen quillt noch mehr Wasser. Hoffentlich tropft sie nicht auf den Pulli.
»Mir war kalt.« Mir ist nie kalt.
Ich hab Sarah nur in mein Zimmer gelassen, damit sie mich nicht weiter belästigt. Sie gehört zu den Leuten, die einfach keine Ruhe geben. Ich hatte überlegt, ob ich den Pulli verstecken sollte. Ich hatte auch überlegt, ihn zu tragen. Aber ich will seinen Geruch nicht verlieren.
»Leg das hin«, fordere ich sie auf.
Das tut sie. Ich kann salzige Angst bei ihr riechen. Sie hat Angst vor mir. Sie hat Angst vor allem.
»Ich hab gar nichts von ihm«, sagt sie. »Nicht eine einzige Sache.«
»Und was ist mir der Kette um deinen Hals?« Die ist dünn und aus Gold. Man könnte sie leicht zerreißen. »Oder mit dem Ring an deinem Finger. Die hat er dir doch geschenkt.«
»Er hat sie gekauft. Die sind nicht …« Sarah verschluckt den Rest und schaut wieder auf den Pulli. »Sie haben nie ihm gehört.«
Sie meint, dass sie nicht nach Zach riechen. Metall nimmt keinen Schweiß auf. Schmuck riecht nicht danach, wo er war, nur nach dem, was er ist. Außerdem hat Zach den Schmuck ja nie getragen. Er hat ihn gekauft, damit sie ihn trägt. Für mich hat er nie etwas gekauft. Ich überlege, ob ich Sarah das sagen soll, aber das würde nur bestätigen, dass ich wirklich mit Zach zusammen war.
»Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?«, fragt sie und lässt von dem Pulli ab, sie steht mit dem Rücken gegen meinen Schreibtisch.
»Warum fragt mich das eigentlich jeder hier?« Ich weiß genau, warum. Seit Brandon das von Zach und mir verraten hat, haben alle geglotzt und getuschelt. Aber ich will es von ihr hören. Ich will, dass sie zugibt, mich zu verdächtigen, ich hätte ihn getötet. Oder etwas anderes mit ihm gemacht.
Ich vermisse Zach so sehr. Schon beim Gedanken an ihn fängt mein Atem an zu schmerzen. Ich habe Angst zu ersticken. Durch seinen Tod, seine Abwesenheit zieht sich alles zusammen, verstopft, bricht.
»Wir versuchen alle herauszufinden, was passiert ist. Wer hat das mit ihm gemacht. Warum?« Sie sieht mich nicht direkt an. Ihre Hand nähert sich wieder dem Pulli. Sie hält inne, bevor sie ihn berührt.
»Du meinst, wer ihn umgebracht hat?« Das ist es doch, was alle sagen: Zach ist ermordet worden. Aber keiner weiß, wer oder wie oder warum. Das Warum ist die ganz große Frage. Zach ist einer von den Guten. Er war es. Ich
kann mir keinen Grund vorstellen, warum ihn jemand umbringen sollte.
»Ich hab ihn zuletzt am Samstagabend gesehen«, sagt Sarah. Bei »Samstag« versagt ihr fast die Stimme.
»Ich auch«, sage ich. Obwohl
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