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Luegnerin

Luegnerin

Titel: Luegnerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justine Larbalestier
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Central Park kennengelernt. Unter einer Brücke, die voller Eiszapfen hing. Letztes Schuljahr im Winter. Mitten am Tag. Einem Wochentag. Einem Schultag.
    Ich sage »wir haben uns kennengelernt«, obwohl wir seit dem ersten Tag auf derselben Highschool waren. Wir hatten bei dem einen Basketballspiel ein paar Worte gewechselt. Aber danach waren wir zusammen in denselben Unterrichtsstunden gewesen, ohne auch nur »hi« oder »wie geht’s?« zu sagen. Er redete mit den coolen Kids. Ich
redete mit keinem, nicht einmal mit den Lehrern – außer mit Yayeko –, soweit ich es vermeiden konnte.
    Unter der Brücke sprach er mich an.
    »Micah, stimmt’s?«
    Ich betrachtete nur gebannt die Eiszapfen. Es war an diesem Tag etwas wärmer und sie tropften vor sich hin. Ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis sie herunterfallen würden und welcher der Erste sein würde.
    »Du magst wohl Eiszapfen, was?«
    Ich drehte mich zu ihm um. Ich hatte ihn schon an seiner Stimme erkannt. Ich kann mir Stimmen immer besser merken als Gesichter. Seine war tief. So, dass man sie gerne hätte singen oder eine Predigt vortragen hören. Die Stimme war zu tief für einen fünfzehnjährigen Jungen. Sie war tiefer als die von meinem Dad.
    Dann schaute ich ihn richtig an, was ich bis dahin noch nie getan hatte. Ich habe gelernt, meinen Blick über das Äußere von Leuten gleiten zu lassen, ohne dabei irgendwo hängen zu bleiben oder länger zu verweilen. So kann mich keiner »Freak« nennen.
    Ich sah, dass er schön war. Nicht mehr so schmächtig wie in unserem ersten Jahr an der Highschool, aber immer noch sehr schlank. Auch größer. Viel größer. Das waren wir vermutlich beide.
    »Ich bin Zach«, sagte er, obwohl er genau wusste, dass ich das wusste. »Ich mag sie auch. Die Eiszapfen, meine ich. Das ist das einzig Gute am Winter.«
    Wir starrten uns an. Ich sah, wie glatt seine Haut war, wie klein die Poren waren. Dann schauten wir wieder zu den Eiszapfen empor. Fünfzehn waren es. Alle tropften.
    »Glaubst du, die überstehen den heutigen Tag?«

    »Nein«, sagte ich. Überrascht, dass ich meine Zunge gebrauchen konnte. »Es ist zu warm.« Warum redete er mit mir?
    Er trat einen Schritt näher. »Wir sind zusammen in Bio, oder?«
    Ich nickte.
    »Diese Yayeko ist seltsam, findest du nicht auch? Aber sie hat was drauf. Sie ist wahrscheinlich die klügste Lehrerin, die wir haben.«
    Wieder nickte ich. Noch nie hatte ein Junge so nahe bei mir gestanden.
    »Ich mag ihren Unterricht«, sagte er und rückte noch ein Stück näher. Dabei erwähnte er nicht, dass, wenn wir jetzt in der Schule wären, wo wir eigentlich hingehörten, Yayeko Shojis Unterricht jetzt gleich anfangen würde. »Zellen und Glykolyse und Muskelzucken. Ich kann besser Ball spielen, seit ich das ganze Zeug gelernt habe, weißt du?«
    Ich nickte. Ich war mir nicht sicher, dass ich etwas sagen konnte, solange sein Atem Dampfwolken so nahe an meinen machte. Aber es stimmte. Yayeko brachte uns etwas über das Leben bei, indem sie es in seine Bestandteile zerlegte, so dass unsere Bewegungen im Raum einen Sinn ergaben. Wenn ich lief, dachte ich über die Bewegungen meiner Muskeln und Gelenke nach und über die Glukose und den Sauerstoff, die zusammen Energie produzierten.
    Er streifte mit den Lippen sanft über meine Wange.
    Ich rührte mich nicht. Der Schock ließ mich erstarren. Warum hatte er das getan? So hatte er mich noch nie angesehen. Eigentlich hatte er mich überhaupt noch gar nie angesehen.

    Seine Lippen waren trocken und warm. Ansonsten berührte sich kein anderer Teil von uns. Das Blut schoss schneller durch meine Adern und kleinsten Blutgefäße. Ohne mein Zutun öffneten sich meine Lippen leicht und mir entschlüpfte ein »Oh«.
    »Bio ist eigentlich mein Lieblingsfach«, sagte er und ließ seine Lippen zu meinem Ohr hinübergleiten, wo er sanft die Zähne in mein Ohrläppchen drückte.
    »Meins auch«, sagte ich und war froh, dass ich wieder sprechen konnte. Weil es stimmte: Biologie ist das einzige Fach, das mir Spaß macht.
    Sein Geruch kroch mir in die Nase und in den Mund. Schweiß, Fleisch, Seife und etwas anderes, für das ich keinen Namen hatte. Mein Puls beschleunigte sich. Ich spürte ihn in meiner Kehle. Überall an meinem Körper zog sich die Haut zusammen.
    Warum küsste er mich? Wie viele andere Mädchen hatte er schon auf diese Weise geküsst?
    »Keiner sonst merkt es. Aber ich hab gesehen, wie süß du bist«, sagte er. »Du hast so große

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