Luegnerin
hinüberschielen.
Großmutter sagt, das sei ein altes polnisches Sprichwort. (Großtante Dorothy sagt, ein russisches.) Es bedeutet, dass Wölfe wild sind. Das andere, oft von ihnen zitierte Sprichwort ist lateinisch: Lupus non mordet lupum. »Ein Wolf beißt keinen anderen Wolf.« Was den Rest des Tierreiches zum Beißen freigibt.
Wir sind nicht zu zähmen. Wir sollten nicht in Städten leben.
Großmutter zitiert das alles oft. Und hat es früher noch häufiger zu mir gesagt, als sie mich und Dad zu überreden versuchte, dass es das Beste für mich wäre, auf der Farm zu leben. Den Rest meines Lebens dort zu verbringen.
Ich kann nicht erklären, warum ich die Großstadt so liebe. Ich hab’s versucht. Aber wie soll ich es jemandem beschreiben, der noch nie da war. Der Angst davor hat.
Sie hasst die Großstadt, weil sie meint, sie zerstöre die Natur. Sie glaubt, hier gäbe es keine Natur.
Sie hat unrecht.
Überall ist Natur. Ich muss noch nicht mal in die Parks gehen, um sie zu finden. Unkraut und Gras schiebt sich aus Spalten im Gehweg, aus den Seiten von Gebäuden und Mauern. In der Stadt gibt es nicht eine Straße ohne Pflanzen. Es gibt Gärten auf leer stehenden Grundstücken, auf Balkonen, selbst auf den Dächern von Gebäuden.
Und Pflanzen bringen Insekten und Mikroorganismen im Boden mit sich.
Die Natur ist in der Stadt die Gleiche wie auf dem Land. Sie ist hier nur härter. In der Stadt gibt es nicht viele verschiedene Arten von Spechten, kein Wild und nur ganz wenig Waschbären. Aber Ratten, Tauben, Mücken, Fliegen? Denen geht es hier bestens.
Natur ist überall. Unter meinen Füßen: Ratten und Insekten. Über meinem Kopf: Tauben, Spatzen, selbst der eine oder andere Turmfalke. Nirgendwo in der Stadt – auf der ganzen Welt – gibt es einen Ort, an dem nicht in nächster Nähe eine Spinne sitzt. Es gibt auch größere Tiere, nicht nur die Menschen, die Katzen, die Hunde, sondern auch das eine oder andere Schwein oder Lama, die Pferde und die Eichhörnchen, die Füchse und Erdhörnchen und Schlangen und Eidechsen.
Die Oldies sehen einfach nicht, dass die Natur stark ist
und selbst unter widrigsten Umständen überlebt. Genau wie sie selbst.
FAMILIENGESCHICHTE
Die Oldies sind uneins, was die Herkunft der Werwölfe anbetrifft.
Großmutter sagt, dass es ganz bis in die Anfänge der Menschheit zurückreicht. Wir haben uns aus den Wölfen entwickelt; die Menschen aus den Affen.
Und warum verwandeln sich die Menschen dann nicht einmal im Monat in Affen?
Darauf hat Großmutter keine Antwort.
Großtante Dorothy erzählt von einem Pakt, den ein Mann und ein Wolf damals in grauer Vorzeit geschlossen haben. Sie waren auf der Flucht vor einem Raubtier, das größer war als sie beide. Sie rannten beide auf einen schmalen Höhleneingang zu. Dort war nicht für beide Platz, also kämpften sie. Das Raubtier kam näher. Der Wolf schlug vor, dass sie sich den Platz teilten. Er schnitt sich den Bauch auf und ließ den Mann hineinkriechen. Dann zwängte sich der Wolf in die Höhle.
Aber als sie sich wieder trennen wollten, ging das nicht. Sie waren aneinander gebunden. Ein menschlicher Wolf, ein wölfischer Mensch.
Dad sagte, sein Großvater hätte ihm erzählt, dass nicht geschnitten wurde und dass es eine Frau war und kein
Mann. Der Wolf und die Frau waren so eng zusammengezwängt in dieser Höhle, dass sie miteinander verschmolzen und man nicht mehr sehen konnte, wo der Wolf anfing und die Frau endete.
Darüber lachte Großtante Dorothy nur. Sie sagte, so hätte ihr Daddy das aber nicht erzählt. Die Frau und der Wolf hatten sich verliebt, miteinander geschlafen und die Werwölfe waren ihre Kinder.
Die andere Geschichte, die Großmutter erzählte, war die, dass die Wilkins einen Pakt mit einem Wolfsrudel geschlossen hätten, vor langer, langer Zeit, als die Länder noch keine Namen hatten und die Menschen in Stämmen lebten und ein karges Leben fristeten, indem sie von Ort zu Ort wanderten. Der Pakt ermöglichte es ihnen, nicht mehr umherziehen zu müssen, sondern sicher und gesund an einem Ort zu bleiben, sogar im Winter. Die Wilkins teilten ihre Nahrung mit den Wölfen, die Wölfe bekämpften dafür ihre Feinde.
Die Wilkins mussten so nicht länger jagen und sammeln, sondern konnten anpflanzen und ernten, Ziegen und Schweine halten und Getreide und Gemüse anbauen. Sie fütterten die Wölfe und die Wölfe verteidigten sie.
Sie lebten so eng zusammen, dass es nur wenige Jahre dauerte, bis der
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