Luegnerin
wie beim ersten Mal war mir auch diesmal nicht heiß. Meine Zähne schmerzten nicht.
Es war in Mathe. Der vorletzten Unterrichtsstunde. Wir beschäftigten uns mit Zahlenrätseln. Wir mussten drei Formen zeichnen und darauf achten, dass sie sich alle berührten, dann vier, dann fünf. Fünf war unmöglich. Während
ich daran herumknobelte, überfiel mich die erste Hitzewallung. Dann juckte es stärker. Dann stechende Schmerzen im Bauch, Sterne vor den Augen. Rasende Kopfschmerzen. Meine Zähne taten weh.
In mir bewegte sich alles. Ich wusste, was es war. Ich musste nach Hause.
Ich stand auf.
»Micah, setz dich hin«, sagte die Lehrerin, ohne mich dabei anzusehen.
Ich stürzte zu Boden.
Das war nicht beabsichtigt, aber die Muskeln in meinen Beinen hatten sich verflüssigt. Zumindest fühlte es sich so an. Aber wenn ich an mir hinabsah, dann fühlten sie sich an wie menschliche Beine.
»Alles okay mit dir, Micah?« Jetzt starrte die Lehrerin mich an.
»Nein«, sagte ich, verwundert, dass ich Zunge und Mund noch im Griff hatte. Ich versuchte aufzustehen und hielt mich dabei am Tisch fest. Meine Knochen verwandelten sich in Messer. »Es ist meine Krankheit.«
Ich hatte eine Akte. Die Information über meine Krankheit war in dieser Akte. Alle Lehrer wussten Bescheid.
»Ich muss meinen Dad anrufen.«
Jedenfalls glaube ich, dass ich das sagte, aber schon im nächsten Augenblick krümmte sich mein Körper zusammen. Es fühlte sich an, als würde die Wirbelsäule aus meinem Rücken heraustreten. »Ich muss los und meinen Dad anrufen. Er weiß Bescheid.«
Ich habe keine Ahnung, ob diese Worte aus meinem Mund kamen oder nicht.
Ich schnappte meine Tasche und kroch zur Tür. Dabei kramte ich in ihrem Inneren nach dem Handy. Der Schmerz breitete sich über meinen ganzen Körper aus.
Ich war sicher, dass ich sterben würde.
Irgendwie schaffte ich es, aus dem Klassenzimmer zu kommen. Irgendwie kriegte ich das Handy in die Hand. Drückte auf die Kurzwahltaste für Dad. Schrie, er solle mich holen kommen. Sagte ihm, ich würde so schnell wie möglich nach Hause kommen. Die Schule war ja nur fünf Blocks von zu Hause entfernt: eine Avenue, vier Straßen. Laufen ging am schnellsten. Normalerweise brauchte ich nur wenige Minuten bis nach Hause.
Aber verflüssigte Muskeln, sich verschiebende Knochen, Schmerz in jeder Faser, jeder Zelle.
Ich bewegte mich weiter vorwärts: in Richtung Ausgang, die wenigen Eingangsstufen hinab, auf die Straße hinaus.
Ich wusste nicht, ob ich es schaffen würde oder ob ich mich am helllichten Tag an einem geschäftigen Donnerstagnachmittag mitten auf der First Avenue in einen Wolf verwandeln würde.
Die Lehrerin war noch immer irgendwo hinter mir, dachte ich. War sie mir gefolgt? Vielleicht war es auch jemand anderes. Mehr als eine Person. Meine Augen nahmen die Sinneseindrücke nicht mehr richtig auf. Es gab viel weniger Farben. Ich sah rot. Ich sah gelb. Aber vor allem rot. Aber ich wusste, in welche Richtung ich gehen musste. Abwärts. Nach Süden, dann nach Westen.
Ich bewegte mich weiter vorwärts.
Sie riefen meinen Namen. Ich konzentrierte mich aufs Atmen, wollte mit meinen Gedanken den Verwandlungsprozess
verlangsamen und mich zwingen, immer schneller einen Fuß vor den anderen zu setzen bis zum Lauftempo. Ich glaube, ich erreichte schließlich ein Schlurfen. Ich weiß nicht, wie viele Blocks ich hinter mich gebracht hatte, als Dad mich schließlich packte und mit sich zog.
Ich hörte Rufe und Fragen. Ich kniff die Augen zusammen.
Als Dad mich endlich in den Aufzug bugsierte, waren meine ganzen Arme voller Fell und ich konnte nur noch vornübergebeugt stehen. Ich roch den Angstschweiß meines Vaters oder war es mein eigener?
Noch nie zuvor hatte ich solche Schmerzen gehabt. Ich musste zurück in diesen Käfig. Ich war mir nicht sicher, was von beidem schlimmer war.
Während Dad mich in unsere Wohnung, in mein Zimmer, in den Käfig zerrte, versuchten die Knochen sich aus meinem Gesicht herauszuschieben. Ich konnte nichts mehr sehen. Oder hören. Meine Augäpfel und Trommelfelle waren geplatzt.
Dann war ich ein Wolf.
In einem Ein-mal-zwei-Meter Käfig und hungriger, als ich es je zuvor in meinem Leben gewesen war.
Dad erzählte mir später, dass ich zwanzig Minuten am Stück geheult hatte. Er musste den Nachbarn etwas vorlügen, damit sie nicht die Polizei riefen. Ich weiß nicht, was für Lügen er erzählt hat, aber von da an schauten mich alle nur noch schräg
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