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Luegnerin

Luegnerin

Titel: Luegnerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justine Larbalestier
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FAMILIENGESCHICHTE
    Meine Begeisterung für Biologie wurde durch meine erste Verwandlung ausgelöst. Es hatte mich schon immer interessiert, aber jetzt war es eine Leidenschaft, nein, es war eine Notwendigkeit . Ich musste wissen, was ich war, wie ich war. Ich musste mehr darüber herausfinden.
    Wie war es möglich? Wie konnte sich Materie derart umformen? Ich war eine 47 Kilo schwere Zwölfjährige. Ich wurde zum 47 Kilo schweren Wolf. Das ergab einen Sinn, wenn man an den Erhalt der Masse dachte. Gleiches Gewicht. Beides Säugetiere. Beides Warmblüter. Es wäre sehr viel seltsamer, wenn ich mich in eine Schlange verwandeln würde und damit vom Warmblüter zum Kaltblüter würde. Vom Mensch zur Python. Oder was wäre, wenn ich mich in eine Schnecke verwandelte? Kein Blut, keine Knochen. Es hat noch nie eine Schnecke gegeben, die auch nur annähernd 47 Kilo gewogen hätte.
    Mensch zu Wolf: Die Masse bleibt erhalten. Aber wie verwandle ich mich?
    Wie erscheint und verschwindet die Behaarung, wie verschieben sich die Knochen und wachsen und schrumpfen? Wie kann ich zugleich ein Mensch und ein Wolf sein?
    Wenn ich mich zurückverwandle, bin ich dann noch derselbe Mensch wie vorher? Sind es dieselbe Haut und dieselben Zellen? Oder werde ich jedes Mal neu erschaffen? Ein neuer Wolf, ein neuer Mensch. Wenn ja, warum bleiben dann meine Erinnerungen erhalten? Oder verändern sie sich und ich merke es nur nicht?
    Wer bin ich? Was bin ich?
    Um all das zu verstehen, da war ich sicher – bin ich
sicher –, musste ich lernen, wie der Mensch funktioniert. Wie wir Energie aufnehmen und verbrauchen. Was passiert, wenn wir atmen. Woraus wir gemacht sind. Gene, DNA. Und dasselbe musste ich auch über Wölfe lernen.
    Ich muss verstehen, wie ich bin, um verstehen zu können, was ich bin.
    Ich weiß so wenig. Ich weiß nicht, ob ich jemals genug wissen werde.
    Ich kann das Wort » Werwolf« verwenden, aber ich weiß nicht, was es bedeutet. Nicht unter der Oberfläche meiner Haut, meines Verstecks.
    Ich habe Großmutter und Großtante Dorothy gefragt. Sie haben einige Antworten, aber nicht genug. Meistens kapieren sie noch nicht mal meine Fragen.
    Ich habe Großmutter gefragt, warum sie sich bemüht hat, die Werwolf-Gene nicht an ihre Kinder weiterzuvererben.
    Sie hat es geleugnet.
    »Aber was ist mit deiner Geschichte?«, fragte ich. »Dass du jemanden gesucht hast, der kein Werwolf war, mit dem du ein Kind kriegen konntest … dass du jemanden von außerhalb heiraten wolltest, um so die Gene der Familienkrankheit zu schwächen?«
    Großmutter gluckste. »Das war eine Geschichte für deinen Vater. Ich bin stolz auf den Wolf in mir. In dir. Ich würde nie versuchen, ihn zu töten. Warum, glaubst du wohl, arbeite ich so hart, um das alles hier so zu erhalten, wie es ist? Es zu vergrößern? Warum, glaubst du, möchte ich dich hier haben?«
    »Aber warum hast du dann …?«, setzte ich an. »Ich meine … wer war mein Großvater?«

    »Wirst du es deinem Vater nicht erzählen?«
    Ich dachte an all die Lügen, die er mir erzählt, und an alles, was er mir verschwiegen hatte. »Nein. Versprochen. Ich werde es ihm nicht erzählen.« Ich dachte an all die Lügen, die Großmutter mir erzählt hatte. Ich konnte mein Versprechen jederzeit brechen.
    »Dein Vater ist kein Wolf. Er versteht das nicht.« Einen Augenblick lang schienen ihre Augen gelb. »Dein Großvater war ein Junge von hier. Hab ihn nur ein oder zwei Mal gesehen. Er hat mir Briefe geschrieben. Ich habe nie geantwortet. Das war’s.«
    »Lebt er noch? Mein Großvater?«
    Großmutter gab zunächst keine Antwort, sondern hielt den Blick auf ihre knochigen Hände, ihre narbigen Knöchel gesenkt. »Er ist schon lange nicht mehr bei uns.«

MEINE GESCHICHTE
    Großmutter sagte, es sei abscheulich, die Pille zu nehmen, um so die Verwandlung zu verhindern. Damit töteten wir einen wichtigen Bestandteil von mir. Wenn wir den Wolf in mir derart unterdrückten, würde er dafür den Mensch in mir vertilgen. Es sei zu gefährlich. Ich könnte platzen. Ich würde platzen. Ihre Argumente waren nicht rational.
    Großmutter sagt, es wird leichter mit der Zeit und dass das Verschieben die nächste Verwandlung nur noch schlimmer macht.

    Das war mir egal. Ich wollte nicht auf der Farm leben. Jedenfalls nicht länger als den Sommer über. Ich konnte kein Wolf in einem Käfig sein. Selbst wenn das möglich gewesen wäre, was es nicht war. Die Nachbarn hatten zwar bei jenem ersten Mal nicht die

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