Luises Schweigen
nicht. Ganz besonders hier nicht.»
Er ging zum Schreibtisch und setzte sich auf den altmodischen Drehsessel. Sanika Nuris Appartement unterschied sich deutlich von den Suiten der leitenden Teammitglieder. Es war einfach und funktionell eingerichtet. Neben dem Schlafraum und der Nasszelle gab es nur diesen kombinierten Wohn- und Arbeitsraum. Vor einem abgewetzten Sofa stand ein ovaler Rauchglastisch, darauf drei Styroporbehälter mit der Aufschrift «Delhi Delights». In einem steckte eine Plastikgabel, während ein Plastiklöffel zu Boden gefallen war. Augenscheinlich hatte sich Sanika ihr Abendessen von außerhalb liefern lassen und bevorzugte noch immer die scharf gewürzten Speisen aus dem Land ihrer Großeltern, obwohl sie selbst in Harrow im Nordwesten Londons geboren und aufgewachsen war. Der Schreibtisch war aufgeräumt, nur eine einzige Aktenmappe lag exakt ausgerichtet am rechten Rand. Engel schlug sie auf. Sie enthielt drei eng mit einer Art Steno beschriebene Blätter, vermutlich Sanikas Protokollnotizen der abendlichen Gruppensitzung. Engel zog die Computertastatur zu sich und drückte die Enter-Taste, woraufhin der Bildschirmschoner verschwand und der Dateiexplorer erschien. Engel klickte sich durch einige Ordner. Alle waren klar strukturiert: Korrespondenz und Protokolle zeitlich geordnet, dazu je ein Ordner pro Themenbereich: Grab, Ossuarien, DNA-Spuren und so weiter. In jedem dieser Ordner befanden sich zahlreiche Unterordner, in denen die Berichte der entsprechenden Teammitglieder abgelegt waren. Der Fortschritt ihrer Arbeit der letzten Wochen war komplett dokumentiert und jederzeit nachvollziehbar. Sanika Nuri war die perfekte Sekretärin und Assistentin.
Engel klickte auf den Reiter mit der Bezeichnung «Grab». Er enthielt weitere Unterordner, in denen sich die Zeichnungen des Fundes, die Berichte der Techniker, die Fotos sowie seine eigene Dokumentation zur zeitlichen Einordnung in den historischen Zusammenhang befanden. Er wollte den Ordner schon schließen, als er ein unbeschriftetes Verzeichnis sah. Vermutlich hatte Sanika einen neuen Ordner angelegt, ihn dann doch nicht gebraucht und vergessen, ihn zu löschen. Einer Eingebung folgend, öffnete Engel den Ordner. Zu seiner Überraschung war er nicht leer, sondern enthielt ein einziges Bilddokument. Als die Zeichnung den Bildschirm füllte, erkannte er sofort, um was es sich handelte. Am unteren Rand der Skizze gab es eine handschriftliche Notiz - zu klein, um sie lesen zu können. Er vergrößerte die Ansicht und scrollte zum Ende des Dokuments. Als er das eilig hingekritzelte Datum entzifferte, verfiel er in eine Schockstarre und merkte nicht, dass Sarah hinter ihn getreten war.
«Du weißt, was das bedeutet?», fragte sie mit tonloser Stimme.
Engel nickte.
«Wir werden sterben. Alle.»
Eine Woche zuvor - sechzehn Tage vor der Auferstehung
Wolfram Engel brachte seinen Oberkörper auf dem Beifahrersitz in eine bequemere Position und lehnte den Kopf an die Seitenscheibe. Seit zwanzig Minuten fuhren sie auf dem Highway von Tel Aviv nach Jerusalem. Der Fahrer machte einen umsichtigen und vorsichtigen Eindruck, und Engel entspannte sich. Woher kam diese plötzliche Müdigkeit? Normalerweise unterhielt er sich gerne mit Taxifahrern und Chauffeuren, wenn er in einem fremden Land angekommen war. Leichter konnte man sich Informationen über die aktuelle Lage nicht verschaffen. Heute war ihm nicht nach einem Gespräch zumute. Auch der Chauffeur schaute stur geradeaus, und Engel schloss die Augen. Wahrscheinlich fehlte ihm einfach Schlaf. Angela hatte darauf bestanden, dass er sie gestern Abend auf die Geburtstagsparty ihrer besten Freundin begleitete. Sein Argument, er müsse sich auf die plötzliche Israelreise vorbereiten, hatte sie wie immer nicht akzeptiert.
«Du fliegst erst morgen Nachmittag, da bleibt Zeit genug zum Ausschlafen. Und überhaupt: Warum lässt du dich auch auf so eine kurzfristige Reise ein? Als ob das nicht zwei Tage Zeit gehabt hätte. Du musst doch nicht sofort springen, wenn dieser komische Engländer anruft!»
Im Prinzip hatte Angela recht, meistens erwiesen sich die sensationellen Entdeckungen, mit denen Henderson ihn nach Rom, Tel Aviv oder Kairo lockte, als alltägliche Funde. Deshalb hatte er gestern auch kurz überlegt, die Nachricht auf seiner Mailbox für einen oder zwei Tage zu ignorieren. Schon allein der Tonfall passte ihm nicht:
«Harold Henderson hier. Ich habe etwas Sensationelles. Sofort
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