Lullaby (DE)
den Kopf und erklärte, nichts zu wissen. »Da werden Sie die Immobilienagentur anrufen müssen«, sagte sie. »Helen Boyle. Steht auf dem Schild.«
Und das kleine Mädchen sagte: »Die ist eine böse Hexe.«
Und die Frau schloss die Tür.
Jetzt, im Gartoller-Haus, schreitet Helen Hoover Boyle durch die hallenden, weißen, leeren Räume. Sie telefoniert immer noch. Die Wolke ihres rosa Haares, das farblich abgestimmte rosa Kostüm, die weißen Strümpfe, die halbhohen rosa Schuhe. Klebriger rosa Lippenstift. An ihren Armen funkeln und klimpern goldene und rosa Armbänder, Goldkettchen, Talismane und Münzen.
Der Schmuck reicht für einen ganzen Weihnachtsbaum. Perlen, so groß, dass ein Pferd daran ersticken könnte.
Sie sagt ins Handy: »Haben Sie die Leute im Exeter-Haus angerufen? Die hätten schon vor zwei Wochen schreiend davonlaufen sollen.«
Sie schreitet durch hohe Flügeltüren ins nächste Zimmer und weiter ins nächste.
»Aha«, sagt sie. »Was soll das heißen, die wohnen da nicht?«
Große Bogenfenster, die auf eine gemauerte Terrasse hinausgehen. Dahinter ein vom Rasenmäher gestreifter Rasen, dahinter ein Swimmingpool.
Sie sagt ins Handy: »Man zahlt nicht eins Komma zwei Millionen für ein Haus und wohnt dann nicht da.« Ihre Stimme schallt laut und schneidend durch diese Zimmer ohne Möbel und Teppiche.
Eine kleine rosa-weiße Handtasche hängt ihr an einer goldenen Kette von der Schulter.
Einsachtundsechzig. Fünfzig Kilo. Ihr Alter ist schwer zu schätzen. Sie ist so dünn, dass sie nur todkrank oder aber sehr reich sein kann. Ihr Kostüm ist aus einem dicken Stoff, eine Art Sofabezug, mit weißen abgesetzten Borten. Rosa, aber nicht Garnelenrosa. Die Farbe erinnert eher an Garnelenpastete, serviert auf einem Knäckebrot mit Petersilienzweig und einem Klacks Kaviar. Die Jacke ist auf Hüfte geschnitten und an den Schultern eckig ausgepolstert. Der Rock ist kurz und eng. Die goldenen Knöpfe riesig.
Sie trägt Puppenkleider.
»Nein«, sagt sie, »Mr. Streator ist hier.« Sie hebt ihre gemalten Augenbrauen und sieht mich an. »Ich vergeude seine Zeit?«, sagt sie. »Das will ich doch nicht hoffen.«
Lächelnd sagt sie ins Telefon: »Gut. Er schüttelt den Kopf.«
Ich muss mich doch fragen, was an mir sie veranlasst hat, mittleres Alter zu sagen.
Ehrlich gesagt, sage ich, habe ich eigentlich keinen Bedarf an einem Haus.
Zwei rosa Fingernägel über dem Handy, beugt sie sich zu mir vor und bewegt lautlos die Lippen: Nur noch eine Minute.
In Wirklichkeit, sage ich, habe ich ihren Namen aus den Akten der Gerichtsmedizin. In Wirklichkeit habe ich über den forensischen Akten sämtlicher Fälle von Krippentod hier in der Gegend in den letzten fünfundzwanzig Jahren gebrütet.
Und immer noch dem Handy lauschend und ohne mich anzusehen, legt sie mir die rosa Fingernägel ihrer freien Hand aufs Revers und lässt sie dort, ein kaum spürbarer Druck. Ins Handy sagt sie: »Also, was ist da los? Warum wohnen die nicht da?«
Ihrer Hand nach zu urteilen, aus dieser Nähe, dürfte sie Ende dreißig sein, oder Anfang vierzig. Und doch ist dieses taxidermische Aussehen, das oberhalb eines gewissen Alters und Einkommens als schön durchgeht, für sie zu alt. Ihre Haut sieht schon wie abgeblättert aus, gerupft, vergammelt, eingefettet und zurechtgemacht wie ein frisch renoviertes Möbelstück. Neuer Polsterbezug in Pink. Restauriert. Aufgemöbelt.
Sie schreit in ihr Handy: »Machen Sie Witze? Ja, natürlich weiß ich, was ein Abriss ist!« Sie sagt: »Das ist ein historisches Haus!«
Sie zieht die Schultern hoch, links und rechts an ihrem Hals, und lässt sie wieder sinken. Dann wendet sie das Gesicht vom Handy ab und stöhnt mit geschlossenen Augen.
Sie hört zu, steht da mit ihren rosa Schuhen und weißen Beinen, die sich in dem dunklen Holzfußboden spiegeln. Und tief unten im Holz sieht man auch die Schatten unter ihrem Rock.
Die freie Hand an die Stirn gelegt, sagt sie: »Mona.« Sie sagt: »Wir können es uns nicht leisten, dieses Objekt zu verlieren. Wenn die das Haus durch ein neues ersetzen, sind wir wahrscheinlich für immer aus dem Geschäft raus.«
Dann schweigt sie wieder und hört zu.
Und ich muss mich fragen, seit wann man zu einem braunen Jackett keine blaue Krawatte tragen darf.
Ich senke den Kopf, sehe ihr in die Augen und sage: Mrs. Boyle? Ich müsse mich mal privat mit ihr treffen, nicht in ihrem Büro. Es gehe um Recherchen für einen Artikel.
Aber sie wedelt mich fort.
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