Lullaby (DE)
meinem Arm, eine Schrotladung Keime und Viren. Brauner Kaffeespeichel.
Ich sage, ich weiß es nicht. In dem Buch steht, das sei ein Merzlied. In manchen alten Kulturen wurden solche Lieder Kindern vorgesungen, während Hungersnöten oder Dürrezeiten, oder wenn der Stamm für sein Land zu groß geworden war. Man singt es für im Kampf verstümmelte Krieger und kranke Menschen, für jeden, dessen baldigen Tod man sich erhofft. Um seine Schmerzen zu beenden. Es ist ein Wiegenlied. Ein Lullaby.
Zum Thema Berufsethos habe ich gelernt, dass ein Journalist sich kein Urteil über die Fakten zu erlauben hat. Dass er Informationen nicht sieben darf. Vielmehr soll er Details sammeln. Alles was da ist. Ein unparteiischer Zeuge sein. Heute weiß ich, eines Tages zögert man keine Sekunde mehr, diese Eltern am Heiligabend noch einmal anzurufen.
Duncan sieht auf die Uhr, dann sieht er mich an und sagt: »Und was ist nun mit Ihrem Experiment?«
Morgen werde ich wissen, ob es da einen ursächlichen Zusammenhang gibt. Ein echtes Muster. Die Geschichte erzählen, das ist mein Job. Ich schiebe die Seite 27 in seinen Reißwolf.
Knüppel und Steine brechen dir die Beine, aber Worte können dir nicht wehtun.
Ich will nichts erklären, bevor ich mir nicht sicher bin. Noch ist das alles hypothetisch, also bitte ich meinen Redakteur um Geduld. Ich sage: »Wir können beide etwas Ruhe brauchen, Duncan.« Ich sage: »Vielleicht können wir morgen früh darüber reden.«
7
Bei meiner ersten Tasse Kaffee kommt Henderson von der Innenpolitik zu mir rüber. Ein paar Leute schnappen sich ihre Mäntel und eilen zum Aufzug. Andere schnappen sich eine Zeitschrift und eilen zur Toilette. Wieder andere ducken sich hinter ihre Computermonitore und tun so, als telefonierten sie, während sich Henderson mit losem Schlips und offenem Kragen mitten in der Nachrichtenredaktion aufbaut und brüllt: »Wo zum Teufel steckt Duncan?«
Er schreit: »Die Frühausgabe geht in Druck, verdammt, und wir brauchen noch den Rest der Titelseite.«
Ein paar zucken bloß mit den Schultern. Ich greife zum Telefon.
Details zu Henderson: blondes Haar, über die Stirn gekämmt. Abgebrochenes Jurastudium. Redakteur für Innenpolitik. Weiß jederzeit über die Schneebedingungen Bescheid und hat an jeder einzelnen seiner Jacken einen Liftpass hängen. Das Passwort für seinen Computer ist »Passwort«.
Er tritt an meinen Schreibtisch und sagt: »Streator, haben Sie keine andere Krawatte als nur diese widerliche blaue?«
Den Hörer am Ohr, bewege ich lautlos die Lippen: Interview. Ich frage das Freizeichen: B wie Berta?
Natürlich erzähle ich keinem davon, dass ich Duncan das Gedicht vorgelesen habe. Die Polizei kann ich nicht anrufen. Wegen meiner Theorie. Ich kann Helen Hoover Boyle nicht erklären, warum ich zu ihrem toten Sohn noch Fragen habe.
Der Kragen ist mir so eng, dass ich hart schlucken muss, um den Kaffee überhaupt runterzukriegen.
Selbst wenn man mir glauben würde, würde man als Erstes wissen wollen: Welches Gedicht?
Zeig es uns. Beweise es.
Die Frage ist nicht: Würde das Gedicht durchsickern?
Die Frage ist: Wie schnell wäre die Menschheit ausgerottet?
Hier geht es um die Macht über das Leben und einen kalten, sauberen, unblutigen, einfachen Tod, für jedermann verfügbar. Jedermann. Ein sofortiger, unblutiger Tod à la Hollywood.
Selbst wenn ich nichts verrate: Wie lange kann es dauern, bis Gedichte und Lieder aus aller Welt in irgendein Klassenzimmer gerät? Wie lange, bis die Seite 27, bis das Merzlied fünfzig Kindern vorm Schlafengehen vorgelesen wird?
Wie lange, bis es übers Radio Tausenden von Leuten vorgelesen wird? Bis es in Musik gesetzt wird? In andere Sprachen übersetzt wird?
Teufel, es muss nicht mal übersetzt werden, es funktioniert auch so. Babys sprechen ja gar keine Sprache.
Duncan ist seit drei Tagen verschwunden. Miller meint, Kleine habe Duncan zu Hause angerufen. Kleine meint, Fillmore habe angerufen. Jeder ist sich sicher, dass irgendein anderer ihn angerufen hat, aber keiner hat mit Duncan gesprochen. Er hat seine E-Mails nicht beantwortet. Carruthers sagt, Duncan habe nicht mal angerufen, um sich krank zu melden.
Eine Tasse Kaffee später bleibt Henderson mit einem Belegbogen der Freizeitbeilage vor meinem Schreibtisch stehen. Der Bogen ist so gefaltet, dass über dem Knick eine Anzeige zu sehen ist. Dreispaltig, fünfzehn Zentimeter hoch. Henderson sieht mir zu, wie ich auf meine Armbanduhr klopfe und sie
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