Lullaby (DE)
Recherche.
In der Jugendabteilung der Bezirksbücherei steht das Buch wieder an seinem Platz. Es wartet. Gedichte und Lieder aus aller Welt . Und auf Seite 27 steht ein Gedicht. Ein überliefertes afrikanisches Gedicht, erklärt das Buch. Es hat acht Zeilen, und die brauche ich mir nicht abzuschreiben. Die habe ich seit dem Wohnwagen in der Vorstadt, seit dem allerersten Baby in meinen Notizen. Ich reiße die Seite heraus und stelle das Buch ins Regal zurück.
In der Redaktion sagt Duncan: »Wie läuft die Geschichte mit den toten Babys?« Er sagt: »Rufen Sie mal diese Nummer an und kriegen Sie was raus«, und gibt mir einen Probeabzug der Lifestyle-Beilage; eine Anzeige dort ist rot eingekreist.
Dreispaltig, fünfzehn Zentimeter hoch. Die Überschrift lautet:
Achtung an alle Kunden
des Meadow Downs Fitness- und Squash-Clubs
Und dann: »Haben Sie sich durch die Benutzung der Fitnessgeräte oder Toiletten- und Waschanlagen Ihres Clubs eine nekrotisierende Pilzinfektion zugezogen? Falls ja, rufen Sie bitte die folgende Nummer an, um sich an einer Sammelklage zu beteiligen.«
Unter der angegebenen Telefonnummer meldet sich eine Männerstimme: »Anwaltskanzlei Deemer, Duke und Diller.«
Der Mann sagt: »Damit alles seine Ordnung hat, brauchen wir Namen und Anschrift von Ihnen.« Er sagt: »Können Sie Ihren Ausschlag beschreiben? Größe. Lage. Farbe. Verlust oder Beschädigung von Gewebe. Bitte seien Sie so genau wie möglich.«
Hier liegt ein Irrtum vor, sage ich. Ich habe keinen Ausschlag. Ich sage: Ich rufe nicht wegen der Sammelklage an.
Aus irgendeinem Grund muss ich an Helen Hoover Boyle denken. Als ich sage, dass ich Reporter bei der Zeitung bin, sagt der Mann: »Tut mir Leid, aber wir dürfen über die Sache erst sprechen, wenn die Klage eingereicht ist.«
Ich rufe beim Squash-Club an, aber auch dort will man nicht reden. Ich rufe den Treeline Dining Club an, aber man will mir nichts sagen. Die Telefonnummern in beiden Anzeigen sind identisch. Mit der seltsamen Handyvorwahl. Ich rufe noch einmal dort an, und die Männerstimme sagt: »Anwaltskanzlei Diller, Doom und Duke.«
Und ich lege auf.
In der Journalistenschule bringen sie einem bei, dass man mit dem Wichtigsten anfangen soll. Man spricht hier vom Pyramidenprinzip: Das Wer, Was, Wo, Wann und Warum kommt an den Anfang des Artikels. Es folgen in absteigender Reihenfolge die weniger wichtigen Fakten. Auf die Weise kann der Redakteur den Text nach Gutdünken von hinten kürzen, ohne dass etwas besonders Wichtiges verloren geht.
All die kleinen Einzelheiten, der Geruch der Tagesdecke, das Essen auf den Tellern, die Farbe des Weihnachtsbaumschmucks, das alles landet auf dem Fußboden der Setzerei.
Das einzige Muster beim Krippentod: Im Herbst, wenn es kälter wird, nehmen die Fälle zu. Mit der Beleuchtung dieses Fakts will mein Redakteur in der ersten Folge anfangen. Damit kann man die Leute in Panik versetzen. Fünf Babys, fünf Folgen. Auf die Weise bringen wir die Leute dazu, die Serie an fünf aufeinander folgenden Sonntagen zu lesen. Wir können versprechen, die Ursachen und Muster des plötzlichen Kindstodes zu untersuchen. Wir können die Hoffnung wach halten.
Manche Leute denken immer noch, Wissen sei Macht.
Wir können Inserenten eine hoch motivierte Leserschaft garantieren. Draußen ist es bereits kälter.
Wieder in der Redaktion, bitte ich meinen Redakteur um einen kleinen Gefallen.
Ich hätte da möglicherweise ein Muster entdeckt. Es sehe so aus, als wäre jedem Kind am Abend vor seinem Tod dasselbe Gedicht vorgelesen worden.
»Bei allen fünf?«, sagt er.
Ich sage: Machen wir ein kleines Experiment.
Es ist spät abends, und wir beide sind nach einem langen Tag müde. Wir sitzen in seinem Büro, und ich sage, er soll einfach zuhören.
Es ist ein altes Lied, es handelt von Tieren, die schlafen gehen. Wehmütig und sentimental. Mein Gesicht fühlt sich aschgrau an und heiß von oxidiertem Hämoglobin, während ich das Gedicht im Licht der Neonlampen vorlese; auf der anderen Seite des Schreibtischs sitzt mein Redakteur, Schlips und Kragen offen, mit geschlossenen Augen auf seinem Stuhl zurückgelehnt. Sein Mund ist leicht geöffnet, seine Zähne und sein Kaffeebecher haben Flecken im selben Kaffeebraun.
Das Gute daran ist, dass wir allein sind und es nur eine Minute dauert.
Am Ende macht er die Augen auf und sagt: »Was zum Teufel soll das?«
Duncans Augen sind grün.
Seine Spucke landet in kleinen kalten Tropfen auf
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