Lullaby (DE)
Schreitet zu einem Kamin, lehnt sich daran, stützt sich mit der freien Hand am Sims ab und flüstert: »Wenn die Abrissbirne in Aktion tritt, werden die Nachbarn in Jubelrufe ausbrechen.«
Ein breiter Durchgang führt von diesem Zimmer in einen weiteren weißen Raum mit Holzfußboden und intrikat geschnitzter, weiß gestrichener Decke. In der anderen Richtung führt ein Durchgang in ein Zimmer mit leeren weißen Bücherregalen.
»Vielleicht könnten wir einen Protest organisieren«, sagt sie. »Ein paar Briefe an die Zeitung schicken.«
Und ich sage: Ich bin von der Zeitung.
Ihr Parfüm riecht nach Lederautositzen, welken Rosen und Zedernholztruhen.
Und Helen Hoover Boyle sagt: »Mona, Moment mal.«
Sie tritt wieder an mich heran und sagt: »Was haben Sie da gesagt, Mr. Streator?« Ihre Wimpern blinzeln einmal, zweimal, schnell. Warten. Ihre Augen sind blau.
Ich bin Reporter bei der Zeitung.
»Das Exeter-Haus ist ein reizendes, ein historisches Haus, und irgendwelche Leute wollen es abreißen«, sagt sie mit einer Hand über dem Handy. »Sieben Schlafzimmer, fünfhundertsechzig Quadratmeter Wohnfläche. Das Parterre komplett in Kirsch getäfelt.«
In dem leeren Zimmer ist es so still, dass man eine winzige Stimme im Telefon »Helen?« sagen hören kann.
Sie schließt die Augen und sagt: »Baujahr 1935«, und legt den Kopf zurück. »Dampfbodenheizung, elftausend Quadratmeter Grund, Ziegeldach . . .«
Und die winzige Stimme sagt: »Helen?«
»... ein Spielzimmer«, sagt sie, »eine Bar, ein Gymnastikraum. . .«
Das Dumme ist, dass ich kaum noch Zeit habe. Ich möchte nur wissen, sage ich, haben Sie einmal ein Kind gehabt?
». . . ein Anrichteraum«, sagt sie, »ein Kühlraum . . .«
Ich frage, ob ihr Sohn vor etwa zwanzig Jahren an plötzlichem Kindstod gestorben ist.
Ihre Wimpern blinzeln einmal, zweimal, und sie sagt: »Verzeihung?«
Ich möchte wissen, ob sie ihrem Sohn aus Büchern vorgelesen hat. Ob sein Name Patrick war. Ich sei auf der Suche nach allen existierenden Exemplaren eines bestimmten Buchs.
Helen Boyle klemmt sich das Handy zwischen Ohr und gepolsterte Schulter, lässt ihre rosa-weiße Handtasche aufschnappen und nimmt ein Paar weiße Handschuhe heraus. Sie streift sich die Handschuhe über die Finger und sagt: »Mona?«
Ich möchte wissen, ob sie das Buch vielleicht noch hat. Bedaure, aber ich kann ihr nicht sagen, wozu.
Sie sagt: »Ich fürchte, mit Mr. Streator werden wir nichts anfangen können.«
Ich möchte wissen, ob ihr Sohn obduziert wurde.
Sie lächelt mich an. Dann flüstert sie unhörbar: Gehen Sie .
Und ich hebe beide Hände, spreize sie ihr entgegen und trete den Rückzug an.
Ich muss unbedingt dafür sorgen, dass jedes einzelne Exemplar dieses Buchs vernichtet wird.
Und sie sagt: »Mona, rufen Sie bitte die Polizei.«
6
Im Fall eines Krippentodes versichert man den Eltern routinemäßig, dass sie nichts falsch gemacht haben. Babys ersticken nicht in ihren Bettchen. In einer 1945 im Journal of Pediatrics veröffentlichten Untersuchung wiesen Forscher nach, dass Babys unmöglich an ihrem Bettzeug ersticken können. Auch das kleinste Baby, mit dem Gesicht nach unten auf ein Kissen oder eine Matratze gelegt, könne den Kopf so weit zur Seite drehen, dass es atmen könne. Selbst wenn das Kind eine leichte Erkältung hätte, kann ein ursächlicher Zusammenhang mit seinem Tod nicht bewiesen werden. Das Gleiche gilt für Schutzimpfungen gegen Diphtherie, Keuchhusten und Tetanus. Auch wenn das Kind nur wenige Stunden zuvor beim Arzt gewesen war, kann es sterben.
Da sitzt keine Katze auf dem Kind und saugt ihm das Leben aus.
Wir wissen nur, dass wir nichts wissen.
Nash, der Rettungssanitäter, zeigt mir die violetten und roten Flecken auf der Haut der Kinder, Livores mortis, wo das oxidierte Hämoglobin sich in die tiefer liegenden Körperregionen absetzt. Bei der blutigen Flüssigkeit um Mund und Nase handelt es sich um das, was der Gerichtsmediziner Schaumpilz nennt, ein natürlicher Vorgang der Verwesung. Wer verzweifelt nach einer Antwort sucht, wird beim Blick auf die Todesflecken, den Schaum oder auch den Windelausschlag sofort an Kindesmissbrauch denken.
Will man das große Ganze verdrängen, muss man sich alles aus der Nähe ansehen.
Will man die Welt nicht an sich heranlassen, muss man sich in den Details vergraben. In den Fakten. Das Beste am Dasein als Reporter ist, dass man sich hinter seinem Notizbuch verstecken kann. Alles ist immer
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