Lulu
Konsultation gerufen worden. Ihr Friseur hatte mein erstes Gedicht gelesen, das ich in der »Gesellschaft« hatte drucken lassen –: »Hetz’ deine Meute weit über die Berge hin; sie kehrt wieder von Schweiß und von Staub bedeckt …«
SCHIGOLCH
O yes!
ALWA
Und dann kam sie in rosa Tüll – sie trug nichts darunter als ein weißes Atlasmieder – auf den Ball beim spanischen Gesandten. Doktor Goll schien seinen nahen Tod zu ahnen. Er bat mich, mit ihr zu tanzen, damit sie keine Tollheiten anstellte. Derweil wandte Papa kein Auge von uns, und sie sah während des Walzers über meine Schulter weg nur nach ihm. Nachher hat sie ihn erschossen. Es ist unglaublich.
SCHIGOLCH
Ich zweifle nur stark daran, dass noch einer anbeißt.
ALWA
Ich möchte es auch niemandem raten!
SCHIGOLCH
Dieses Rindvieh!
ALWA
Sie hatte damals, obgleich sie als Weib schon vollkommen entwickelt war, den Ausdruck eines fünfjährigen, munteren, kerngesunden Kindes. Sie war damals auch nur drei Jahre jünger als ich; aber wie lang ist das nun schon her! Trotz ihrer fabelhaften Überlegenheit in Fragen des praktischen Lebens ließ sie sich von mir den Inhalt von »Tristan und Isolde« erklären; und wie entzückend verstand sie sich dabei aufs Zuhören. – Aus dem Schwesterchen, das sich in seiner Ehe noch wie ein Schulmädchen fühlte, wurde dann eine unglückliche hysterische Künstlersfrau. Aus der Künstlersgattin wurde dann die Frau meines seligen Vaters; aus der Frau meines Vaters wurde dann meine Geliebte. Das ist nun einmal so der Lauf der Welt, wer will dagegen aufkommen.
SCHIGOLCH
Wenn sie vor den Herren mit ehrlichen Absichten nur nicht Reißaus nimmt und uns stattdessen einen Obdachlosen heraufbringt, mit dem sie ihre Herzensgeheimnisse ausgetauscht hat.
ALWA
Ich küsste sie zum ersten Mal in ihrer rauschenden Brauttoilette; aber nachher wusste sie nichts mehr davon. Trotzdem glaube ich, dass sie in den Armen meines Vaters schon an mich gedacht hat. Oft kann es ja nicht gewesen sein. Er hatte seine Glanzzeit hinter sich, und sie betrog ihn mit Kutscher und Stiefelputzer. Aber wenn sie sich ihm gab, dann stand ich vor ihrer Seele. Dadurch hat sie auch, ohne dass ich mich dessen versehen konnte, diese furchtbare Gewalt über mich erlangt.
SCHIGOLCH
Da sind sie!
(Man hört schwere Tritte die Treppe heraufkommen.)
ALWA (emporfahrend)
Ich will das nicht erleben! Ich werfe den Kerl hinaus!
SCHIGOLCH (rafft sich mühsam auf, nimmt Alwa am Kragen und pufft ihn nach links)
Vorwärts, vorwärts! Wie soll ihr der Junge seinen Kummer beichten, wenn wir zwei uns hier herumwälzen.
ALWA
Aber wenn er ihr Gemeinheiten zumutet!
SCHIGOLCH
Und wenn, und wenn! Was will er ihr denn noch zumuten! Er ist auch nur ein Mensch wie wir.
ALWA
Wir müssen die Tür auflassen.
SCHIGOLCH (Alwa in den Verschlag stoßend)
Unsinn! – Kusch dich!
ALWA (im Verschlag)
Ich werde es schon hören! Gnade ihm der Himmel!
SCHIGOLCH (schließt die Kammer. Von innen)
Maul halten!
ALWA (von innen)
Der soll sich vorsehen.
(Lulu öffnet die Mitteltür und lässt Herrn HUNIDEI eintreten. Herr Hunidei ist ein Mann von hünenhafter Gestalt, glattrasiertem, rosigen Gesicht, himmelblauen Augen und freundlichem Lächeln. Er trägt Havelock und Zylinder und trägt in der Hand den triefenden Schirm.)
LULU
Hier ist meine Wohnung.
HERR HUNIDEI
(legt den Zeigefinger auf den Mund und sieht Lulu bedeutungsvoll an. Darauf spannt er seinen Schirm auf und stellt ihn im Hintergrund zum Trocknen auf die Diele).
LULU
Sehr behaglich ist es hier allerdings nicht.
HERR HUNIDEI
(kommt nach vorn und hält ihr die Hand vor den Mund).
LULU
Was wollen Sie mir damit zu verstehen geben?
HERR HUNIDEI
(legt ihr die Hand vor den Mund und hält den Zeigefinger an seine Lippen).
LULU
Ich weiß nicht, was das bedeutet.
HERR HUNIDEI
(hält ihr rasch den Mund zu).
LULU (sich freimachend)
Wir sind hier ganz allein. Es hört uns kein Mensch.
HERR HUNIDEI
(legt den Zeigefinger an die Lippen, schüttelt verneinend den Kopf, zeigt auf Lulu, öffnet den Mund wie zum Sprechen, zeigt auf sich und dann auf die Türe).
LULU (für sich)
Herr Gott – das ist ein Ungeheuer!
HERR HUNIDEI
(hält ihr den Mund zu. Darauf geht er nach hinten, faltet seinen Havelock zusammen und legt ihn über den Stuhl neben der Tür. Dann kommt er mit grinsendem Lächeln nach vorn, nimmt Lulu mit beiden Händen beim Kopf und küsst sie auf die Stirn).
SCHIGOLCH (hinter der
Weitere Kostenlose Bücher