Luna Atra - Der schwarze Mond (German Edition)
Kopf, so hart, als
wollte ich meine Gedanken hinausschleudern. Dann fuhr ich erneut herum und
stürzte aus dem Raum.
»Lass
sie gehen«, hörte ich Hansens scharfe Stimme, dann schlug ich die Tür des
Gästezimmers hinter mir zu und warf mich mit einem heftigen Schluchzen auf das
Bett, vergrub das Gesicht im Kissen. Ich wollte heulen, alles aus mir
herausfließen lassen, aber nun waren da doch keine Tränen, und ein Krampf
umschloss meine Brust, zerdrückte sie schier.
Ich kann es doch nicht , fuhr es mir durch den
Kopf. Ich kann nicht weitermachen, als wäre nichts gewesen. Als gäbe es das
schwarze, lauernde Etwas in meiner Seele nicht, das Er in mich hineingepflanzt
hat. Es ist in mir, und es wächst. Bei Gott, wie rasch es wächst!
Ich
hob den Kopf, starrte aus dem Fenster, durch das ich noch heute Morgen einen
Vogelschwarm hatte fliegen sehen. Nun war da nur ein aschfarbener Himmel, fahl,
trostlos. Das bin ich , dachte ich. Diese beängstigende Weite ohne
Sonne, ohne jedes Licht. Das bin ich.
Ich
zog die Decke über den Kopf, und die Schwärze darunter beschwor Bilder in mir
herauf. Ich sah die Fratze des Mannes, der mein Leben zerstört hatte, verschmolzen
mit dem Antlitz Kiros und dem eines Dritten, den ich schon beinahe vergessen
hatte, während die Erinnerung an ihn in meinem Unterbewusstsein weitergelebt
hatte. Der Mann auf dem Schulball – Kiros Bruder Mike. Jene drei Männer, die
mein Leben in den vergangenen Tagen komplett auf den Kopf gestellt hatten,
vermischten sich vor meinem geistigen Auge zu einem einzigen, ein Bild, das
mich mit Grauen und Unverständnis erfüllte.
Denk an etwas anderes , befahl ich mir wie ein verängstigtes
Kind, an etwas Schönes.
Die
Erinnerung an Kiros und meinen ersten Abend in diesem Gästezimmer tauchte
hinter meinen Lidern auf, unsere zaghaften Annäherungsversuche, der flüchtige
Kuss. Dann wurde jenes Bild von einem anderen überdeckt, einem gierigen Kiro,
der nach Fleisch lüstete, mit glühenden Augen und flinken, groben Händen. Mein
Magen zog sich zu einem harten Knoten zusammen, ich krümmte mich, zitterte am
ganzen Leib.
Eine
höhnische Stimme ertönte in meinem Kopf: Was dachtest du denn? Dass wir zur
Feier des Tages dem hässlichen Entlein ein paar Brotkrumen zuwerfen? Du siehst
nicht nur aus wie ein Trampeltier, du bist auch noch genauso dämlich!
Ich
schluchzte auf, presste die Decke gegen mein Gesicht. Ersticken , dachte
ich in einem Anflug von Hysterie. Ich werde mich einfach selbst ersticken.
Dann ist alles vorbei.
Natürlich
erstickte ich nicht. Die Hitze unter der Decke wurde beinahe unerträglich,
ebenso wie der Sauerstoffmangel. Mit einem Mal fühlte ich mich unendlich müde
und ausgelaugt. Ich ließ ein wenig Luft durch einen Spalt, atmete flach, dann
tiefer.
Schließlich
versank mein Bewusstsein in einem schwindelerregenden Wirbel aus Farben und
Stimmen.
Kapitel VI
Sie spürte zweierlei
mit übergroßer Deutlichkeit. Erstens: Sie träumte. Zweitens: Sie war wieder in
ihrem alten Körper. Ihr Leib war der einer erwachsenen Frau, noch jung an
Jahren, aber reif und vollendet. Er war in ein schwarzes Seidenkleid gehüllt,
und ihr Blick wurde von einem Trauerschleier behindert, der ihre geröteten
Augen gnädig verbarg. Ein eisiger Wind ließ ihr Haar steigen, ihre Tränen zu
Eis erstarren. Mit klammen Fingern krallte sie sich in den Arm eines jungen
Mannes, der letzte Mensch auf Erden, der ihr Halt in dieser von Wahnsinn
erfüllten Welt geben konnte. Das Grün um sie herum war von weißen, frisch
aufgeschichteten Steinhaufen durchsetzt, die wie bleiche Schädel leuchteten.
Jeder Haufen stand für ein verschwendetes Leben, jeder Stein für einen
gestorbenen Traum.
Miranda
kannte dieses Bild, kannte es nur zu gut. Es besaß den Titel »Vergangenheit«,
und sein Maler war ihr verhungernder Verstand.
Das
Bewusstsein, dass es sich lediglich um einen Traum handelte, verblasste nach
und nach, und schließlich ging sie vollständig in der Vision auf, wurde ein
Teil davon.
Um
sie herum hatte sich eine überschaubare Gruppe ebenfalls schwarz gekleideter
Gestalten versammelt, die Köpfe betroffen gesenkt. In vielen Augen glitzerten
Tränen. Dass ihre Zahl so gering war, traf Miranda beinahe schmerzhafter als
die tief schürfenden Worte des Redners, der auf einen Felsen gestiegen war, um von
oben herab zu ihnen zu sprechen. Einst waren sie vier Dutzend Seelen gewesen,
nun fand ihr verschleierter Blick kaum mehr eine Handvoll. Ein
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