Luna Atra - Der schwarze Mond (German Edition)
trockenes
Schluchzen würgte ihre Kehle, wollte aus ihr hervorbrechen, aber sie blieb
stumm.
»Es
sind schwere Zeiten«, sprach der Redner. Auch er schien mit den Tränen kämpfen
zu müssen und stockte wiederholt, um sich zu sammeln. »Unsere engsten Freunde,
unsere Brüder und Schwestern wurden von uns genommen, von einer Kraft aus
dieser Welt gerissen, die keine Gnade kennt. Wir haben unsere Frauen verloren,
unsere Kinder, unsere Eltern.«
Sein
Blick fiel auf das blasshäutige Baby, das in den Armen des jungen Mannes lag,
an dessen Schulter Miranda sich klammerte. Frische Tränen wallten in ihr hoch,
als sie in das süße Gesichtchen dieses Waisen sah, und obwohl der Junge
unmöglich begreifen konnte, was um ihn herum geschah, erkannte sie doch einen
beängstigenden Ernst in den dunklen Augen, die so schmerzlich denen seiner
Mutter ähnelten. Seit die Gedenkfeier begonnen hatte, hatte das Kind keinen
Laut von sich gegeben, sodass Miranda sich stets versichern musste, ob es
tatsächlich da war.
»Doch
seid stark, meine Freunde«, fuhr der Redner mit bebender Stimme fort. »Ja, wir
sind gekommen, um der Gefallenen in diesem sinnlosen Krieg zu gedenken – dem
jungen Niklas, der besonnenen Leonie, dem lebensfrohen Marius, dem wackeren
Andreas, der klugen Eloin.«
Miranda
schluchzte auf, als die Namen wie mit Messerstichen in ihr Herz drangen. Der
Mann legte einen Arm um sie, zog sie fest an sich, und sie vergrub ihr Gesicht
an seiner Brust. Das Kind griff mit seinen winzigen Fingern nach ihrem Haar,
sah sie aus großen Augen an.
»Aber
wir sind auch zusammengekommen, um neuen Mut zu fassen«, fuhr der Redner fort.
Mit einem Mal klang seine Stimme entschlossener, in seinem Blick entzündete
sich ein loderndes Feuer. »Unsere Brüder und Schwestern sind nun in die
Ewigkeit eingegangen, um einen Ort zu sehen, der uns alle eines Tages zu sich
rufen wird. Ihre Seelen sind eins mit dem Kosmos, sind um uns und in uns,
halten die Welt im Gleichgewicht und werden uns helfen, das Kommende zu
überstehen. Zürnt nicht ihnen, dass sie euch hier allein zurückgelassen haben.
Zürnt den dunklen Mächten, die sich gegen uns verschworen haben, den bösen
Kräften dieser Erde, die nach dem Blut Unschuldiger lechzen! Meine Brüder und
Schwestern, ich glaube daran, ich bin fest davon überzeugt, dass wir diesen
Kampf noch gewinnen können, wenn wir nur uns selbst nicht aufgeben! Das Wissen
unserer Gegner ist groß, aber unser Mut ist größer! Ihre Herzen sind finster
und gefüllt mit Hass, aber die unseren sind stark und rein, vertreiben die
Finsternis der Nacht! Habt keine Angst, scheut nicht zurück! Ein langer Winter
hat uns gebeutelt, aber die Vorboten des Frühlings lassen den Schnee bereits
schmelzen und frische Knospen treiben! Seid frohen Mutes, bleibt euch treu, und
niemand wird euch ein Leid zufügen können! Glaubt daran, glaubt an euch selbst
und an eure Brüder und Schwestern, und alles wird sich zum Guten wenden.«
Der
Redner hielt inne, schöpfte nach Atem. Seine Augen wanderten über die Gesichter
der Anwesenden, und das leidenschaftliche Feuer schien nach und nach von Trauer
und Schmerz erstickt zu werden. »Meine Lieben«, flüsterte er. »Geht nun hin.
Liebt die Euren, als wäre es das letzte Mal. Gemeinsam sind wir stark,
gemeinsam finden wir die Kraft, die nötig ist. Ich sehe einen Silberstreif am
Horizont, der uns Frieden verheißt. Lebt wohl.«
Er
wandte sich um und stieg von dem Felsen herab, und die Menge begann sich
schweigend zu zerstreuen. Sie waren gekommen, um stumm zu trauern, sich in
ihren Schmerz zu ergeben. Stattdessen waren sie erneut dazu aufgefordert
worden, zu kämpfen. Ihre Gesichter waren von Verzweiflung gezeichnet und von
der Entbehrung der vergangenen Monate, doch vor allem von Resignation. Niemand
unter ihnen glaubte noch an den Sieg, nicht, nachdem nun auch Eloin und Andreas
den Feinden zum Opfer gefallen waren.
Miranda
konnte einfach nicht begreifen, dass sie tatsächlich für immer fort sein
sollten. Sie waren die Einzigen gewesen, die die Waagschale noch in ihre
Richtung hätten kippen können, in sie hatten sie all ihre Hoffnungen gesetzt.
Nun waren sie tot, und alles, was sie für ihre Anhänger zurückgelassen hatten,
war ein elternloses Kind und eine führungslose, zerschlagene Herde, die nur
noch auf den Wolf wartete.
Noch
immer konnte Miranda Andreas vor sich sehen, als er ihr in jener
schicksalhaften Nacht das Bündel in die Arme gedrückt hatte. »Nimm ihn«, hatte
er
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