Lundborg-Westmann & Claes Claesson - 06 - Der Tröster
gezeigt hatte, war dunkelhäutig. Offenbar war das heutzutage ein Ausdruck der Political Correctness, auch solche Leute zu beschäftigen, dachte er. Jedenfalls war sie mit ihrem langen, schmalen Hals, ihrer hohen Stirn, ihrem markanten Kinn, den ernsten vollen Lippen und den durchdringenden braunen Augen, in denen Pupille und Iris nicht voneinander zu unterscheiden waren, eine ausgesprochene Schönheit. Sie sah ihn ruhig und fragend an. Das war nicht unangenehm, aber auch nicht wirklich angenehm.
»Nein, sie hat nicht angerufen«, antwortete er knapp.
Er hörte selbst, dass er müde und niedergeschlagen klang.
»Hat sie denn kein Handy?«
Die ältere Beamtin war um die vierzig und trug eine Ponyfrisur. Sie war ungeschminkt, wirkte typisch schwedisch und etwas langweilig, was vielleicht auch nur daran lag, dass diese ausgesprochene Schönheit neben ihr stand.
»Natürlich hat sie ein Handy. Haben Sie es nicht gefunden?«
Die Frauen sahen sich an.
»Nein noch nicht«, antwortete die Polizistin mit dem Pony.
Als er die Polizistinnen einließ, hatte Harald das vage Gefühl beschlichen, Charlotte sei tot und man würde ihn nun mit der nackten Wahrheit konfrontieren.
Jetzt wiederholten sie aber, Charlotte läge im Krankenhaus und werde soeben operiert. Über ihren Zustand sei nichts Genaues bekannt.
Sie hatte eine Schussverletzung erlitten.
Aber sie hatte überlebt.
»Begreifen Sie nicht, dass ich sie sehen muss? Ich will bei ihr sein und nicht hier herumsitzen«, ereiferte er sich plötzlich, als hätten die beiden das Fass zum Überlaufen gebracht.
Doch, das verstanden sie. Sie nickten beide nachdenklich mit dem Kopf wie zwei Wellensittiche.
»Das Krankenhaus wird sie verständigen, sobald die Operation vorüber ist«, sagte die Beamtin mit dem Pony. »Dann erfahren wir auch, wie alles verlaufen ist.«
Wir, dachte er. Wer, wir? Ich habe das Recht, es zu erfahren.
Die beiden Polizistinnen waren die ganze Zeit über freundlich, sachlich und so verdammt beherrscht, dass ihm fast der Kragen platzte.
Unruhig erhob er sich von seinem Sessel. Die beiden Frauen blieben auf dem löwengelben Plüschsofa sitzen. Die Stehlampe von Svenskt Tenn mit einem Stoffschirm mit Tulpenmuster von Josef Frank stellte die einzige Lichtquelle dar. Sie stand im Erker neben dem Sofa. Das Haus war plötzlich kein lebendiges und schön eingerichtetes Zuhause mehr, sondern ein Mausoleum mit leeren und dunklen Sälen.
Er hatte den Eindruck, dass die Ältere ein Gähnen zu unterdrücken versuchte, sobald er ihr den Rücken zuwandte. Sie zog ein Handy aus der Tasche.
»Spreche ich mit der Notaufnahme?«
Sie nannte ihren Namen, Louise Irgendwas, hieß sie. Ein ausländischer Nachname.
»Wir schicken einen Wagen, der Sie zum Krankenhaus bringt«, sagte sie dann.
Langsamen Schrittes begab er sich ins Obergeschoss, um sich umzuziehen. Ordentliche Kleidung. Er wollte sich auf das, was ihn erwartete, vorbereiten.
Veronika war jetzt sehr lange auf den Beinen. Sie saß in dem fensterlosen Kabuff mit dem Diktaphon. Sie öffnete die Tür hinter sich ganz, um etwas frische Luft hereinzulassen, während sie in das Gerät sprach. Der Gang hinter ihr war leer und lag im Halbdunkel. Nur das Rauschen der Lüftung und die leisen Unterhaltungen aus dem OP drangen an ihr Ohr.
Die Nacht ging in die Morgendämmerung eines ganz normalen Samstags über.
Sie mochte die Nächte. Man kam sich näher. Wenige hatten Dienst, waren weniger gehetzt und hatten mehr Zeit für alles. Wie oft hatte sie nicht im Laufe der Jahre noch weit nach Mitternacht allein in dem kleinen Kabuff gesessen und einen Operationsbericht diktiert? Ein Ritual, das den eigentlichen Eingriffbeendete.
fetzt beschrieb sie den gesamten Verlauf mit den wesentlichen Details in kurzen und prägnanten Sätzen.
Als frischgebackene Ärztin hatte sie die Tür immer sorgfältig hinter sich geschlossen, um sich die Formulierungen in Ruhe zurechtlegen zu können. Sie wollte mehrmals zurückspulen und wiederholen können, ohne gestört zu werden und ohne dass andere sie hören konnten. Sie hatte in dem Kabuff gesessen, bis der Sauerstoff aufgebraucht gewesen war, und trotzdem war sie unsicher gewesen, ob sie auch alles erwähnt hatte. Die Angst davor, Fehler zu machen, war die Geißel aller jungen Ärzte.
Den ersten Operationsbericht, den sie diktiert hatte, hatte sie nach der Abschrift ihrem damaligen Chef vorlegen müssen. Er war natürlich der Operateur gewesen und hatte somit auch die
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