Lundborg-Westmann & Claes Claesson - 06 - Der Tröster
könnte, ohne dass die anderen etwas merkten.
Der Patient war frisch operiert, der ganze Bauch sei voller Krebsgeschwüre gewesen, hatte sie sich sagen lassen. Es gab viele Patienten in recht instabiler Verfassung. Die Ärzte hatten nicht viel tun können. Sie hatten die Bauchdecke geöffnet und dann wieder zugenäht. Der Mann war dünn und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Harriet und sie hatten ihn auf einen Hocker unter die Dusche setzen müssen, während er die ganze Zeit mit matter, rauer Stimme beteuert hatte, wie nett sie seien. Ihr kamen fast die Tränen, weil er so verdammt dankbar war, und sie dachte, dass vermutlich dies mit dem Wertesystem gemeint war. Ihr wäre es unmöglich gewesen, hart oder gemein zu ihm zu sein.
Die ganze Zeit beobachtete sie aus den Augenwinkeln, was Harriet tat. Mit energischen Handbewegungen shampoonierte sie das Haar, seifte den Rücken ein und duschte den Mann dann mit der Handdusche lange ab, weil er das warme Wasser so angenehm fand. Sie ließ sich Zeit dabei, weil er in seinem Leben vermutlich nicht mehr so sonderlich oft duschen würde, wie sie Sara-Ida anschließend erklärte. Genauso bedächtig strich Harriet anschließend die Laken glatt. Keine Lieblosigkeit. Sie redete dabei allerdings nicht die ganze Zeit, wie Gertrud im Gullregnet das getan hatte. Fröhliches Geplauder, das die Stimmung aufhellte.
Harriet bat den Patienten, den Versuch zu unternehmen, die wenigen Schritte bis zum Rollstuhl zu gehen, während sie und Ida ihn stützten. Sara-Ida überlegte sich die ganze Zeit, was als Nächstes passieren würde.
Sie vergaß nicht, wie es im Gullregnet gewesen war.
Als sie dort neu gewesen war, hatte Gertrud sie immer Fräulein Neugierig genannt. Sie müsse einfach selbst erkennen, was zu tun sei, und dürfe nicht bei jeder Kleinigkeit fragen. Wie ein unsichtbarer Geist sehen und zupacken, hatte Gertrud mit ihren lippenstiftfleckigen Zähnen gesagt.
Sara-Ida hatte wirklich keine Fehler machen wollen. Schließlich arbeiteten sie nicht an einem Fließband, sondern mit Menschen aus Fleisch und Blut. Das war wichtig und konnte einem auch Angst machen.
In Gertruds Gesellschaft war sie verstummt. Die Vorsicht hatte sie gelähmt. Da hatte sich Gertrud jedoch vor ihr aufgebaut, die Hände in die schon lange nicht mehr vorhandene Taille gestemmt und sie angefahren, es genüge nicht, herumzustehen und schön zu sein.
»Hier wird gearbeitet«, hatte sie verkündet.
Sara-Ida hatte sich damit getröstet, dass sie mit anderen Arbeitskolleginnen besser auskam. Sie hatte mehr auf jene gehört, die der Auffassung gewesen waren, sie sei tüchtig und nett zu den Pflegebedürftigen.
Mit der Zeit war sie dann auch mit Gertrud ausgekommen. Dieser war es eigentlich nur darauf angekommen, alles so schnell wie möglich zu erledigen, um noch Zeit für ein Kreuzworträtsel oder ein Sudoku zu haben. Gertrud war es schon längst leid gewesen, sich um Kranke und Alte zu kümmern. Sie war wirklich bitter geworden. So hatte Sara-Ida nie werden wollen. Dann war der Fehler geschehen.
Veronika ging in ihr Büro, das auf demselben Flur lag wie die Behandlungszimmer. Anfänglich hatte sie sich ein Büro geteilt, zeitweilig waren sie sogar zu dritt gewesen. Aber seit sie Oberärztin geworden war, besaß sie ein eigenes Kabuff. In den letzten Wochen hatte sie sich so oft wie möglich dorthin zurückgezogen.
Sie hatte gerade zusammen mit Fresia Gabrielsson einen Leistenbruch operiert. Genauer gesagt hatte sie der Anfängerin assistiert. Fresia war geschickt, das machte das Assistieren weniger langwierig und langweilig. Es gab Ärzte, die große Angst davor hatten, dass die Wunde stark bluten würde oder dass sie irgendwelche vitalen Körperteile wie Blutgefäße, Nerven oder den Harnleiter durchtrennen würden, dass nichts voranging. Aber Fresia war eine geborene Chirurgin. Noch mehr als Daniel Skotte. Aus Fresia konnte noch etwas werden, wenn sie beharrlich genug war und sich keine Steine in den Weg legen ließ, denn sie war hart im Nehmen und besaß Urteilsvermögen.
Statt im Aufenthaltsraum einen Kaffee zu trinken, saß Veronika da und starrte ins Leere. Sie dachte dieselben, wenig originellen Gedanken, die sie jetzt jeden Tag beschäftigt hatten. Was zum Teufel hatte sie übersehen? Ein Loch im Darm? Eine Blutung?
Sie legte die Füße auf den zweiten Stuhl und versuchte eine Woge der Übelkeit zu unterdrücken. Sie öffnete die Schreibtischschublade, in der sie ihre Süßigkeiten
Weitere Kostenlose Bücher