Lustig, lustig, tralalalala
Party feiern. Hier stimmte so einiges nicht. Als sich die alten Augen von Isegrim an die Dämmerung gewöhnt hatten, durchfuhr es ihn wie einst der Streifschuss von Jäger Plötzke.
«Ich bin ja gar nicht in meiner Höhle, ich bin hier in einem … in einem … ja, was ist das denn hier überhaupt?» Hektisch und mit klopfendem Herzen blickte der Wolf um sich und erkannte einige schmiedeeiserne Regale, die wie stille Wächter in einem Abstand von etwa drei Metern um ihn herumstanden. Tausende von Augen glotzten ihn unter gerade gekämmten blonden Ponyfrisuren herausfordernd an. Ausgestopfte Tierkadaver lagen verstreut auf dem Boden, und am anderen Ende desFlurs stand, so hatte es den Anschein, ein totes Pferd, welches auf zwei gebogene Schienen genagelt worden war. «Das muss der Friedhof der Kuscheltiere sein. Und wahrscheinlich bin ich auch schon tot.»
Der Wolf hob die Nase und schnüffelte vorsichtig. Es roch nach einer Mischung aus Staub, Bohnerwachs und Marzipan. Wobei Bohnerwachs und Marzipan manchmal auch miteinander zu verwechseln waren. Das wusste der Wolf jedoch nicht. Nach Tod roch es jedenfalls nicht. Da war er sich sicher. Vielleicht ist es ja auch nur ein Albtraum!, dachte er und versuchte sich selbst zu kneifen. Als er eine Zeitlang erfolglos seinem eigenen Schwanz hinterhergejagt war, hielt er keuchend inne. Da war doch schon wieder etwas? Am Ende des Ganges war ein leises Schlurfen zu hören. Die Klospülung!, erinnerte sich der Wolf voller Schrecken. Jemand musste sie natürlich betätigt haben, und dieser Jemand wollte ihm jetzt sicher an den Kragen. Der Wolf winselte leise, zog den Schwanz ein und flitzte, so schnell es ging, zwischen die leblosen Körper eines Eisbären und einer afrikanischen Hyäne.
«Hallo?» Das Schlurfen wurde lauter, und der Wolf konnte aus seinem Versteck einen Blick auf zwei aufgedunsene Knöchel erhaschen. «Hallo, ist da wer? Ich hab doch eindeutig jemanden winseln gehört! Hallo? Sind Sie verletzt?» Die fetten Fesseln blieben abrupt und direkt vor der Nase des Wolfes stehen und wirbelten etwas von dem Staub auf, der sich in den Tierfellen gesammelt hatte. «Ha …», o nein, bitte nicht, «haahhhh …», bittebittebitte, «hhhhhhhaaaaaatschi!» Durch ein gewaltiges Niesen stoben Bär und Hyäne auseinander und gaben den Blick auf den Wolf frei, der sich verschämt und immer noch wahnsinnig ängstlich die Schnauze rieb.
«Ach, siehste, hier ist ja doch jemand!», gurrte es am anderenEnde der Wasserbeine. Der Klospüler schien eine Klospülerin zu sein. Um genau zu sein, eine sehr dicke Klospülerin, ergänzte der Wolf in Gedanken. Sein Herz schlug wieder etwas langsamer. Wenn es drauf ankäme, könnte ich sie überwältigen, dachte er, nachdem er sie gemustert hatte. Sie würde mich ziemlich lange ernähren können. Leider, denn Menschenfleisch war nicht besonders schmackhaft. Ähnlich wie Hühnchen … und mit der Zeit ziemlich zäh.
«Ist das nicht herrlich?», sagte die korpulente Frauengestalt begeistert. «Ich habe mich gerade durch die komplette Konditoreiabteilung gefuttert! Wer auch immer sich das hat einfallen lassen, bei dem möchte ich mich jetzt schon einmal bedanken!» Sie wischte sich voller Enthusiasmus über die verschmierten Mundwinkel. «Konditoreiabteilung? Du … du … du meinst, wir sind hier gar nicht auf einem Friedhof?» Entgeistert blickte der Wolf über seine Schulter in die Augenpaare, die ihn immer noch anstarrten. Die Dicke lachte schallend auf.
«Nein, du Dummerchen. Wir sind in einem Warenhaus! Traumhaft, oder?»
Der Wolf atmete auf. Die Tiere waren gar keine Kadaver, der Geruch hätte ja auch deutlichere Worte sprechen müssen – es waren Stofftiere. Natürlich. Doch so schnell sich beim Wolf die Erleichterung breitmachte, so schnell kam auch das Unwohlsein wieder. Denn Kaufhäuser bedeuteten unendlich viele Möglichkeiten, seiner Konsumsucht nachzugeben. Nicht als Wolf, logischerweise, denn Wölfe gingen so gut wie nie einkaufen. Menschen dafür umso mehr, und davon ganz besonders die weiblichen Exemplare. Ein Rudel hungriger Wölfe war nichts im Vergleich mit einer Horde Frauen am Wühltisch. Selbst wenn sie noch jung waren und noch gar keine richtigenFrauen, konnten sie schon zur Bedrohung werden. Er musste sich da bloß an Rotkäppchen erinnern …
Die dicke Frau hatte es sich inzwischen auf einem Schaffell bequem gemacht und knabberte begeistert einem Schokoladennikolaus die lange Mütze ab.
Weitere Kostenlose Bücher