Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
zu. Lydia schäumte vor Wut, als Marion sie zudeckte. Aber sie war krank und müde und schlief bald darauf ein.
Als sie später am Abend aufwachte, hörte sie eine Frau weinen. Sie schlich die Treppe hinunter und hörte Claire in der Küche. Claire hatte einen fremden Ohrring im Bett gefunden – nach Jahren des Streits und des Misstrauens der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Claire hatte einen Koffer gepackt und wollte zu ihrer Mutter, die im Nachbarort wohnte.
Lydia kauerte hinter dem Treppengeländer und konnte nur ihre Mutter erkennen. Claire kehrte ihr den Rücken zu. Marion hob den Kopf, denn sie spürte Lydias Anwesenheit. Sie zog die Augenbrauen hoch und zuckte die Achseln, wie um zu sagen: Du hattest Recht, leider.
Dieses war das erste in einer langen Reihe von Ereignissen, aus denen Lydia Folgendes lernte: Oft verwies ein verlorener Gegenstand, eine flüchtige Geste, ein unausgesprochener Gedanke auf die Wahrheit. Die meisten Leute nahmen die Wirklichkeit so verzerrt wahr, dass sie die Anzeichen des Betrugs nicht erkannten. Nur Lydia entging nichts.
Das Ausmaß ihrer Begabung wurde erst viele Jahre später deutlich, als ihre Mutter starb. Bis dahin hatte Lydia das Ganze als Spiel betrachtet. Das Leben war eine endlose Abfolge von Rätseln, und Lydia war die Detektivin, die die Puzzleteile zusammensetzte.
»Mom, glaub mir, ich habe den Mann schon mal gesehen. Er verfolgt uns«, sagte sie zu ihrer Mutter und stellte sich vor, in einem Kinderkrimi mitzuspielen.
»Lydia, um Himmels willen, nein, er verfolgt uns nicht .«
»Er hat uns auf dem Parkplatz beobachtet, und er ist direkt nach uns losgefahren.«
Ihre Mutter warf einen besorgten Blick in den Rückspiegel. Lydia machte sie nervös. Sie hatte den Mann auch bemerkt, er sah wirklich ein bisschen unheimlich aus. Marion hatte ihn für einen Perversen gehalten, der ihre Tochter begaffte. Und er war tatsächlich gleich nach ihnen losgefahren. Marion bog nach rechts ab, ohne zu blinken. Das rote Auto fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit geradeaus.
»Wow, Mom, gut gemacht! Du hast ihn abgehängt!«, jubelte Lydia.
Marion drehte sich zu ihrer Tochter um, und sie mussten beide lachen. Lydia setzte die Kappe auf ihren blauen Kajalstift.
»Ich habe mir das Nummernschild notiert«, sagte sie.
»Sehr gut«, sagte Marion. Sie spielte mit und betrachtete das Ganze nun auch als Spaß. Die tatsächliche oder eingebildete Bedrohung war vorbei.
Lydia hingegen konnte die Sache nicht so einfach vergessen. Sie versuchte, sich zu erinnern, wo sie den Mann schon einmal gesehen hatte. Sie wusste, sie kannte ihn. Das Gefühl störte und verunsicherte sie.
Mit einem ähnlichen Gefühl betrachtete sie nun die Zeitungsausschnitte vor ihr auf dem Tisch. Die Sonne war über der Wüste aufgegangen und heizte das Wohnzimmer auf wie ein Treibhaus. Seit dem Tod ihrer Mutter versuchte Lydia unablässig, die Dämonen des Bösen zur Strecke zu bringen und ihnen die Maske abzureißen, damit sie nicht länger als normale Menschen getarnt herumlaufen und unschuldige Frauen und Kinder im Schlaf überraschen konnten.
Sie dachte an die Kirche zum Heiligen Namen, die sie letzte Nacht auf ihrer Runde und später noch einmal in ihrem Albtraum gesehen hatte. Was, wenn alle Puzzleteile so zusammenpassten, wie Lydia vermutete? Sie spürte ein Kribbeln am ganzen Körper, als wäre sie von einem Schrei aus dem tiefsten Schlaf geweckt worden. Sie hatte das Gefühl, wie gelähmt im Dunkeln zu liegen und dem Echo nachzulauschen. Einerseits hoffte sie, dass sie den Schrei noch einmal hörte und endlich in Aktion treten konnte, andererseits betete sie, dass sie sich geirrt hatte.
FÜNF
D as Herzstück von Lydias Haus in New Mexico war das Arbeitszimmer. Sie hatte den großen Raum mit der dreieinhalb Meter hohen Decke in beruhigenden Farbtönen eingerichtet: warme Braun- und Rosttöne, dunkles Violett, Tannengrün. An einer Wand zog sich ein deckenhohes Bücherregal entlang. Dort stand alles, was Lydia in ihrem Leben jemals gelesen oder geschrieben hatte. Sie behielt alle Bücher, konnte sich von keinem einzigen trennen. Wie überall im Haus war auch hier die Südwand aus Glas und gab den Blick auf die Landschaft frei, die Lydia so liebte. Der knöchelhohe, dunkelbraune Teppich fühlte sich unter ihren Fußsohlen wie Samt an. Vor der großen Glasfront standen ein Sofa und ein passender Hocker aus terrakottafarbenem, italienischem Leder. Auf dem Sofa lag eine Decke, die Lydia von
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