Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
verlaufen zu sein – bis vor zwei Jahren, als eine Frau, die bei einem Autounfall erblindet war, behauptete, nur seinetwegen wieder sehen zu können. Zudem hatte Juno angeblich durch Handauflegen einen Autisten geheilt. Ein Mann gab an, Juno habe seine verstorbene Frau kontaktiert und die mysteriösen Umstände ihres Todes aufgeklärt. Nachdem die Zeitungen die Geschichte aufgegriffen hatten, setzte ein Strom aus Kranken, Sterbenden und Schaulustigen ein, die wie Heuschrecken über Angel Fire herfielen und für den üblichen Medienrummel sorgten. Juno Alonzo hatte sich geweigert, Interviews zu geben. Er habe mit den Wunderheilungen nichts zu tun. Er gab nur eine einzige Erklärung ab: »Wenn die Menschen, die zu mir gekommen sind, von ihrem Leid befreit wurden, so war es allein Gottes Wille und hat nichts mit mir zu tun.« Als ein kleiner Junge starb, den Juno nach einer Organtransplantation im Krankenhaus besucht hatte, ebbte das Interesse ab. Die Reporter zogen von dannen, und bald war Juno in Vergessenheit geraten.
Beim Lesen fiel Lydia ein, dass sie schon einmal von der Geschichte gehört hatte. Es war noch vor dem Hauskauf gewesen. Sie hatte das Ganze als Klatsch aus der örtlichen Gerüchteküche abgetan. Die Leute waren ständig versucht, irgendwelche Wunder zu sehen: das Mariengesicht in einer Pfütze, Elvis in Las Vegas. Sie suchten nach einer Ordnung im Chaos des Lebens. Dieser Hokuspokus interessierte Lydia nicht. Das echte Leben war rätselhaft genug. Hat sich eigentlich keiner gefragt, warum Juno sich, wenn er doch ein Heiler ist, nicht selbst heilt?, spöttelte sie insgeheim . Vielleicht ist es Gottes Wille .
Unter den Einträgen zu Juno Alonzo fanden sich zwei Artikel aus dem Jahr 1965. Lydia stellte überrascht fest, dass die Lokalzeitung ihr Archiv digitalisiert hatte. Vielleicht hatten die Angestellten sonst nichts zu tun. Der erste Artikel handelte von Serena Alonzo, die ihren Ehemann ermordet hatte. Sie hatte das Haus in Brand gesetzt, in dem er seinen Rausch ausschlief. Der Mann habe sie geschlagen, und sie habe ihn ermordet, um ihr Leben und das ihres ungeborenen Kindes zu retten. Der Artikel erschien als Suchresultat, weil ihr Bruder Luis Claro als Priester in der Kirche zum Heiligen Namen diente. Serena wurde vor Gericht gestellt und zu lebenslanger Haft verurteilt, die, schenkte man einem zweiten Artikel Glauben, ziemlich kurz ausfiel: Serena starb bei der Geburt ihres Sohnes im Gefängniskrankenhaus. Juno Alonzo kam blind auf die Welt. Pater Luis adoptierte ihn und zog ihn in Angel Fire auf.
Die Hintergründe waren interessant, aber Lydia fragte sich, ob ihr jemand bei der Polizei Auskunft über die aktuellen Vorgänge erteilen würde. Die wenigsten Leute freuten sich über ihre Anrufe, und Polizisten schon gar nicht. Chief Simon Morrow vom Santa Fe Police Department bildete da keine Ausnahme. Wenn Lydia anrief, hatte sie Fragen, die fast immer als unbequem empfunden wurden. Lydia war es mittlerweile gewohnt, abgewürgt, beschimpft und bedroht zu werden. Sie nahm es nicht persönlich, und sie blieb hartnäckig. In der Vergangenheit hatte sie Chief Morrow mit ihren knallharten Fragen konfrontiert – und am Ende den Pulitzer-Preis dafür bekommen. Damals hatte Morrow seinen Posten als Polizeichef von St. Louis räumen müssen. Lydia hatte an das Ende seiner Karriere geglaubt, aber dann war er unvermittelt in Santa Fe aufgetaucht. Unkraut vergeht nicht, hätte ihre Mutter gesagt.
Lydia wartete in der Leitung. Sie konnte praktisch sehen, wie Simon Morrow vor seinem Telefon saß, sich ratlos über die verschwitzte Halbglatze rieb und sich fragte, ob er ihren Anruf annehmen sollte.
»Miss Strong, wie kann ich Ihnen helfen?«
»Chief Morrow, wie schön, Ihre Stimme zu hören«, spöttelte Lydia. »Ehrlich.«
»Seit wann sind Sie in der Stadt?«
»Lange genug, um das eine oder andere Gerücht aufzuschnappen.«
»Zum Beispiel?«
»Was ist mit Lucky?«
»Lucky?«
»Ja, der tote Hund, den man im Garten der Kirche gefunden hat. Wie Sie sich vielleicht erinnern, fehlten ihm ein paar lebenswichtige Organe.«
»Traurige Geschichte. Was soll mit ihm sein?«
»Ermitteln Sie noch?«
Morrow pausierte, vermutlich, um einen besonders dramatischen Effekt zu erzielen.
»Miss Strong, ist Ihnen klar, dass sich nach dem Tod eines Hundes, so tragisch der Fall auch sein mag, keinesfalls die Mordkommission einschaltet?«
Lydia gelang es kaum, sich zurückzuhalten. Nervös klopfte sie mit ihrem Kuli
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