Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
versuchte, ihren Albtraum zu vergessen. Köstlicher Kaffeeduft stieg ihr in die Nase, und sie ließ den Blick durch die Küche schweifen. Der große, helle Raum war makellos sauber. Die Küchengeräte, alle modern und auf dem neuesten Stand der Technik, waren fast unbenutzt. Lydia mochte es, wenn alles aufgeräumt und an seinem Platz war. Nur der Manuskriptstapel auf dem Küchentisch störte die Ordnung.
Die Kreativität ist von Natur aus ruhelos und unorganisiert. Sie flattert in Form von Taten und Gedanken umher, um sich schließlich auf die eine Sache zu konzentrieren, die länger als nur einen Moment interessant scheint. Wenn Lydia Zeitung las, sprang sie von Artikel zu Artikel, denn sie war immer auf der Suche nach der spannenderen Nachricht. Wenn eine Meldung ihre Aufmerksamkeit erregt hatte und sie mehr dahinter vermutete, schnitt sie sie aus. Die Artikel stapelten sich überall im Haus. Irgendwann würde sie sich die Zeit nehmen, sie durchzusehen und herauszufischen, was von besonderem Interesse war.
Seit sie vor über vier Wochen nach Santa Fe gekommen war, hatte sie fast die ganze Zeit gelesen. Hauptsächlich Lokalzeitungen. Die überregionalen Zeitungen, die sie im Abo bezog, stapelten sich unberührt im Arbeitszimmer, und ihre E-Mails las Lydia schon lange nicht mehr. Sie war nicht bereit für eine neue Story. Noch nicht. Ihre letzte Reportage für das New York Magazine hatte sich mit einer Dame der High Society befasst, die am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom litt und vor Gericht stand, weil sie drei ihrer vier Kinder vergiftet hatte. Der Verdacht war erst spät auf sie gefallen, denn sie hatte ein Kind in Paris, eins in der Schweiz und das dritte in New York getötet. Esmeralda von Buren, von ihren Freundinnen »Esmy« genannt, war eine narzisstisch gestörte Soziopathin. Nachdem Lydia sich so ausgiebig mit dieser Person, ihren schändlichen Verbrechen und ihrem oberflächlichen, snobistischen Umfeld befasst hatte, brauchte sie mindestens zwei Monate Ruhe in Santa Fe, bevor sie an das nächste Projekt denken konnte. Dennoch fing sie die Schwingungen auf, die von den Zeitungsausschnitten ausgingen; angesichts der vielen ungelösten Rätsel wurde sie von einer latenten Nervosität ergriffen. Bereit oder nicht, sie konnte nicht widerstehen.
Lydia sammelte ein paar Stapel zusammen und setzte sich ins Wohnzimmer. Sonnenlicht fiel in den Raum, in dem überall Topfpflanzen standen. Hinter dem breiten nach Süden ausgerichteten Panoramafenster fiel der Hang steil ins Tal ab. Der Blick von hier oben war fast unendlich, und Lydia konnte sich fast kein schöneres Panorama vorstellen. Einmal hatte sie Jeffrey erklärt, dass der Ausblick ihr morgens nach dem Aufwachen den Glauben an den Sinn des Lebens wiedergebe. Wie viel auch schieflief, wie viele Tragödien sich abspielten und wie viel Chaos in der Welt herrschte – diese Landschaft veränderte sich nie. Jeffrey hatte gelacht und ihr geraten, bei ihren Fachartikeln zu bleiben und das Dichten anderen zu überlassen. Aber er verstand, was sie meinte. Die unzerstörbare Schönheit strahlte eine tiefe Ruhe aus.
Aber in diesem Moment nahm Lydia sie kaum wahr, sie war in Gedanken.
Sie breitete die Artikel auf dem Sofatisch mit der steinernen Platte aus und lief barfuß über den hellen Holzboden in die Küche, um sich noch einen mit Milch verdünnten, gesüßten Kaffee zu holen. Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer strich sie gedankenverloren mit einer Hand an der verputzten Wand entlang, wobei ihre Fingerspitzen etwas Druckerschwärze auf dem jungfräulichen Weiß hinterließen. Sie stellte den Kaffeebecher auf dem Sofatisch ab, nicht ohne vorher ein wenig Kaffee auf dem wilden Muster des Dhurrie-Teppichs zu verschütten. Sie suchte nach ihren Zigaretten, dann nach dem Feuerzeug. Schließlich ließ sie sich auf dem cremeweißen Sofa nieder und sortierte die Artikel.
Wie eine Bildhauerin, die in einem Klumpen Ton nach einer Form sucht, durchwühlte sie die Zeitungsausschnitte. Jeder Artikel hatte ihr etwas zugeflüstert, andernfalls hätte sie ihn nicht ausgeschnitten. Auf diese Weise hatte sie schon viele Geschichten gefunden. Sie las Zeitung und spürte Zusammenhänge auf, die die anderen übersahen. Falls irgendwo eine Verbindung bestand, wusste sie es sofort. Sie konnte es fühlen.
Beim Sortieren dachte sie an Jeffrey. Wegen des Traums letzte Nacht musste sie wieder an ihn denken. In ihrer Erinnerung war er untrennbar mit dem Mord an ihrer Mutter
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