Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
und an ihrer empfindlichsten Stelle zu treffen. Vielleicht war es seine Masche, alle Wunderkräfte zu verleugnen und die Leute dann mit einer Hellsehernummer zu übertölpeln.
Als sie den Motor anließ, überkam sie dasselbe beunruhigende Gefühl wie eben im Garten. Sie wurde beobachtet. Hastig setzte Lydia zurück und fuhr davon. Im Rückspiegel sah sie, wie sich zwischen den Büschen im Garten etwas regte.
Die Erinnerung an ihre Mutter holte sie wieder ein.
Marion Strongs Leben war eine Abfolge von Enttäuschungen gewesen – manche banal, manche mit katastrophalen Folgen. Vielleicht hatte sie zu viel erwartet und unrealistische Träume gehegt. Aber Marion hatte immer gesagt, dass das Leben es nicht gut mit ihr gemeint und ihr nichts geschenkt habe – nichts außer einer hübschen, aufgeweckten Tochter.
Marion war eine ernste Frau gewesen. Mit dem Leben war nicht zu spaßen. Man konnte ihr wahrlich nicht vorwerfen, dass sie irgendetwas auf die leichte Schulter nahm. Sie war groß, sportlich und stark. Mit ihrem kantigen Kinn, dem eindringlichen Gesichtsausdruck und den leuchtend grünen Augen fiel sie überall auf. Das schwarze, früh von grauen Strähnen durchsetzte Haar trug sie zu einem strengen Knoten zurückfrisiert. Sie bezeichnete sich selbst als vernünftig und anspruchslos. Man hatte ihr oft vorgeworfen, unflexibel, streng und unnachgiebig zu sein, vor allem ihr Exmann, der sie kurz vor Lydias Geburt verlassen hatte. Aber Marion wusste, dass sie anders nicht überlebt hätte.
Lydia kannte jedoch auch die anderen Seiten ihrer Mutter. Abends, wenn das Geschirr abgespült und die Hausaufgaben erledigt und kontrolliert waren, folgte sie ihrer Mutter ins Schlafzimmer. In der obersten Schublade der Mahagonikommode lagen eine Haarbürste aus Sterlingsilber und eine dazu passende Dose für Haarnadeln.
Lydia durfte diese Gegenstände nur im Beisein ihrer Mutter anfassen. Unter Marions wachsamem Blick holte sie Bürste und Dose aus der Schublade und legte sie so vorsichtig auf die Kommode, als wären sie aus Glas. Dann schob sie die schwere Lade mit den schmiedeeisernen Ringen lautlos wieder zu. Ihre Mutter konnte unnötigen Lärm nicht leiden.
Lydia setzte sich am Fußende des Bettes im Schneidersitz hinter ihre Mutter und zog ihr die Nadeln eine nach der anderen aus dem Haarknoten und legte sie in die Dose. Dann entrollte sie den langen, geflochtenen Zopf so vorsichtig wie einen Seidenfaden von einer Spule. Ungebändigt war Marions Haar wild gelockt, und einmal aus dem Knoten befreit bauschte es sich zu einer schwarzen Wolke auf, wie ein Tier, das aus einem Käfig springt.
Behutsam kämmte Lydia Marions fast hüftlange Haare. Mit jedem Bürstenstrich schienen die Anspannung und der Ärger des Tages von ihr abzufallen. Lydia sah das Gesicht ihrer Mutter im Spiegel über der Kommode. Die tiefe Zornesfalte zwischen den Augenbrauen glättete sich. Ihre Augen waren halb geschlossen, die vollen Lippen zu einem Lächeln verzogen. Nach fünfzig Bürstenstrichen legte Lydia Bürste und Dose sorgsam in die Schublade zurück. Dann streckte sie sich neben Marion auf dem Bett aus.
An guten Tagen verbreitete ihre Mutter eine heitere und gelassene Stimmung. Sie war nachsichtig, lachte über Lydias Witze und hörte ihrer Tochter aufmerksam zu. Das war die wahre Marion. Später, als Lydia erwachsen und ihre Mutter schon lange tot war, fragte sie sich, wie Marions Leben verlaufen wäre, wenn sie ihre weiche Seite der ganzen Welt offenbart hätte und nicht nur ihrer Tochter eine Stunde vor dem Schlafengehen. Hatte ihre Härte sie unglücklich gemacht, oder hatte das Unglück sie so verhärtet? Hatte ihr Mann Marions sanfte Seite gekannt oder sie etwa wegen ihrer Gefühlskälte verlassen? Wäre ihre Mutter heute noch am Leben, wenn ihr Vater sie nicht verlassen hätte? Lydias Gedanken waren wie eine Abwärtsspirale, aus der es kein Entkommen gab.
Gedankenverloren blickte Lydia in den Rückspiegel – und erblickte die Zornesfalte ihrer Mutter. Sie trat auf die Bremse und fuhr in Erwartung einer Geistererscheinung herum, bevor sie merkte, dass sie nur ihr eigenes Spiegelbild gesehen hatte.
»Dummkopf«, sagte sie laut. Sie ließ den Kopf gegen das Lenkrad sinken. Auf dem Highway war niemand unterwegs. Lydias schwarzes Mercedes Cabriolet stand einsam am Straßenrand, ringsum nur endlose Wüste und der weite, blaue Himmel. In der Ferne kreischte ein Falke.
Ihre Mutter hätte gesagt: Lydia, du hast eine blühende Fantasie.
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