Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
Farnkraut stand eine Statue der Jungfrau Maria, die den kleinen Jesus im Arm hielt. Sie war etwa einen Meter hoch, aus rosa Marmor und wunderschön. Lydia fand die meisten frommen Darstellungen von Madonna und Heiland kalt und abweisend, so als schenke der Künstler der innigen Verbindung von Mutter und Kind keine Beachtung. So als schließe Jesus’ Schicksal aus, dass er Marias Sohn war. Dabei war auch er am Anfang nur ein Baby gewesen, das an seiner Mutter hing. Diese fehlende Menschlichkeit hatte Lydia am Christentum immer schon gestört. Aber das Gesicht der heiligen Jungfrau strahlte vor Mutterliebe, ein verzücktes Lächeln umspielte ihre Lippen, und ihre Augen leuchteten, während das Baby in ihrem Arm friedlich schlief.
»Diese Statue ist bemerkenswert«, sagte Lydia.
»Ja, das habe ich auch gehört«, antwortete Juno. »Mein Onkel, der Pfarrer dieser Gemeinde, ist Künstler. Meistens arbeitet er mit Holz. Vorn in der Kirche steht eine Vitrine mit seinen Kruzifixen und Rosenkränzen. Die Skulptur ist eine Ausnahme. Er hat sie erschaffen, als der Kirchgarten angelegt wurde.«
Der Garten erwies sich als hübsch, aber längst nicht so üppig und exotisch, wie er Lydia beim Joggen und später im Traum erschienen war. Die Blumenbeete waren gepflegt, nirgendwo wuchs Unkraut. Der feuchte, schwarze Mutterboden sah aus wie frisch umgegraben.
»Der Garten wirkt sehr grün für diese Jahreszeit, ganz abgesehen davon, dass er mitten in der Wüste liegt.«
»Wir haben ein paar Freiwillige, die ihn gewissenhaft pflegen. Offenbar leisten sie ausgezeichnete Arbeit. Ich kann es natürlich nicht sehen, aber die Düfte vermitteln mir eine Vorstellung von den Farben. Wunderbar.«
Für einen Moment sah er geradezu verzückt aus. Lydia bekam Zweifel. Zu große Euphorie hatte immer schon ihr Misstrauen geweckt. Nur Psychopathen und Idioten waren so begeisterungsfähig, doch weder das eine noch das andere schien auf Juno zuzutreffen. Wahrscheinlich war er nur ein strenggläubiger Mann, der die Kirche und den Garten kaum je verließ. Er bewegte sich vermutlich innerhalb eines viel kleineren Radius als sie. Wie fühlte es sich wohl an, so vorbehaltlos zu glauben und sich allein von der Vorstellung von Farbe so anrühren zu lassen? Sie wusste nicht, wann sie sich das letzte Mal so gefreut hatte – falls sie in ihrem Erwachsenenleben überhaupt je glücklich gewesen war.
»Haben Sie Ihr ganzes Leben hier verbracht, Mr Alonzo?«
»Ja, mein Onkel hat mich in der Kirche aufgezogen. Wir wohnen hier. Die Konstellation ist sicher recht ungewöhnlich, aber ich helfe ihm bei seinen Aufgaben in der Gemeinde und begleite die Messe auf der Gitarre.«
»Und Sie heilen die Kranken?«
Es war Lydias Guerillataktik, den Gesprächspartner mit harmlosen Fragen in Sicherheit zu wiegen und dann den Vorstoß in Form einer heiklen Frage zu wagen. Juno lachte und schüttelte den Kopf. Er klang nicht verärgert, sondern resigniert.
»Wie ich schon sagte, Miss Strong, gibt es durchaus Menschen, die das glauben.«
»Und was glauben Sie?«
Er lehnte sich an den Türrahmen und sah über ihren Kopf hinweg, als könnte er die Antwort von einer unsichtbaren Tafel ablesen.
»Ich glaube, dass Gott uns heilen kann. Manche Menschen behaupten, meine Berührung habe ihnen geholfen, aber ich bezweifle das. Gleichzeitig habe ich nicht das Recht, jemanden abzuweisen, wenn ich auch nur einem von einer Million Kranken helfen kann – egal ob durch Handauflegen oder durch Einbildung. Abgesehen davon kommt nur noch selten jemand hier vorbei. Sie sind die erste Journalistin seit über einem Jahr. Und ich kann Ihnen nur sagen, was ich den anderen gesagt habe.«
»Wieso wissen Sie selbst nicht genau, ob Sie Heilkräfte besitzen?«
Juno hielt inne, so als überlege er, ob er die Frage überhaupt beantworten solle. Er hatte Lydia schon mehr erzählt als so manchem anderen Reporter. Vielleicht spürte er, dass ihr Interesse nicht nur seinen übersinnlichen Kräft en galt. Vielleicht war er deswegen so offen. Sie rechnete nicht mehr damit, mehr aus ihm herauszubekommen. Umso überraschter war sie, als er plötzlich zu reden anfing.
»Eines Nachmittags, ich war mit der Arbeit längst fertig, saß ich in meinem Zimmer und las in der Bibel. Da hörte ich eine Frau leise weinen. Sie klang so verzweifelt, so hoffnungslos. Ich klappte mein Buch zu, stand auf und machte mich auf die Suche.
Die Luft in der Kirche war zum Schneiden dick, so schwül war es. Die
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