Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
die Familie zu kennen. Wann immer ich gefragt wurde, sagte ich: ›Ich habe den Jungen nicht geheilt. Wenn es ihm besser geht, ist das Gottes Wille.‹
Man interpretierte das als Bescheidenheit, als Beweis meiner Frömmigkeit. Wie sehr ich auch protestierte, die Leute ließen sich nicht von ihrer Überzeugung abbringen.«
»Bis Sie den leukämiekranken Jungen im Krankenhaus besuchten, der kurz danach bei einer missglückten Organtransplantation starb«, bemerkte Lydia.
»Sie kennen die Geschichte?«, fragte Juno und räusperte sich. Zum ersten Mal wirkte er nervös und nestelte an den Manschettenknöpfen seines sauberen, frisch gebügelten Jeanshemds herum.
»Wann genau haben Sie den Hund gefunden?«, fragte Lydia, um das Thema zu wechseln.
»Um sechs Uhr morgens. Ich war früh aufgestanden, um Gitarre zu üben, als mir der seltsame Gestank im Garten auffiel. Die Tür stand offen. Ich hörte ein Rascheln und rief etwas, aber niemand antwortete. Ich ging in den Garten und rutschte in einer Blutlache aus. Es war schrecklich.«
»Wer hat den Kadaver beseitigt?«
»Die Polizisten haben Fotos gemacht und ihn dann weggeschafft.«
»War sonst noch jemand dabei?«, fragte Lydia in der Hoffnung auf einen Augenzeugen. Offenbar war Chief Morrow nicht bereit, ihr die Fotos zu zeigen, die er angeblich nicht besaß.
»Nur mein Onkel.«
Auf einmal stellten sich Lydias Nackenhaare auf. Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, und schaute sich um, aber sie erblickte nur einen Steppenläufer, den der Wind über die Schotterstraße blies.
»Ist Ihr Onkel da?«, fragte sie.
»Ja, aber er bereitet sich gerade auf die Messe vor. Wenn es nicht dringend ist, kann er Sie vielleicht später anrufen?«
»Das wäre schön.« Lydia zog eine Visitenkarte aus ihrer Tasche und drückte sie dem Blinden in die Hand. Juno steckte sie ein und wandte sich zum Gehen, hielt aber noch einmal inne.
»Warum stellen Sie mir diese Fragen, Miss Strong?«
Lydia wusste keine Antwort. Was sollte sie sagen? Ich habe Sie beobachtet. Ich habe von Ihnen und von meiner ermordeten Mutter geträumt. Außerdem treibt mich eine krankhafte Neugier dazu, komplizierte Fragen zu stellen und Bücher über grausige Verbrechen zu schreiben. Ich bin immer auf der Suche, ich jage das Monster im Dunkeln. Ich vermute, dass die Geschichte von dem toten Hund in Ihrem Garten in Wahrheit noch abartiger ist, als wir alle vermuten.
Sie sagte:
»Sind Sie seit Ihrer Geburt blind, Mr Alonzo?«
Er überlegte.
»Ja.«
»Glauben Sie, dass es so leichter ist, als bei einem Unfall zu erblinden?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber ich fühle mich nicht eingeschränkt, wenn es das ist, worauf Sie anspielen. Das würde sich natürlich ändern, sollte ich mich eines Tages nicht mehr bewegen können. Wieso fragen Sie?«
»Nur so. Ich war einfach neugierig.«
»Das glaube ich Ihnen nicht. Ihr Ruf eilt Ihnen voraus.«
»Wie bitte?«
»Ich glaube kaum, dass Sie aus reiner Neugier Ihre kostbare Zeit an einen Blinden und einen toten Hund verschwenden.«
»Nun, Mr Alonzo, zumindest werde ich Ihre kostbare Zeit nicht länger verschwenden«, sagte sie und ging an ihm vorbei zum Gartentor. Sie hatte nicht vor, ihren Verdacht preiszugeben, aber genauso wenig wollte sie lügen.
»Miss Strong, bleiben Sie zum Gottesdienst?«, fragte Juno und folgte ihr.
»Bitte, nennen Sie mich Lydia. Nein, danke. Ich will einen Freund vom Flughafen abholen. Ich muss jetzt wirklich los.«
Sie waren um die Kirche herumgelaufen und standen nun vor dem Eingangsportal.
»Diese Kirche steht Ihnen immer offen. Hoffentlich kommen Sie bald einmal zur Messe. Sicher würde es Ihre Mutter glücklich machen, dass Sie zu Gott zurückgefunden haben.«
»Wie bitte?« Lydia fühlte sich, als hätte man ihr ins Gesicht geschlagen.
»Ich sehe anders als Sie, Lydia.«
Er lächelte, verschwand in der Kirche und zog die Tür hinter sich zu.
Seine Worte saßen wie ein Stachel. Lydia wurde von Trauer und Schuldgefühlen überwältigt. Sie schlich zu ihrem Auto, während ihre Gedanken rasten und das Blut in ihre Wangen schoss und in ihren Ohren rauschte. Sie wollte sich umdrehen, zu ihm zurücklaufen und ihn fragen, wie er das gemeint hatte, woher er ihre Mutter kannte. Warum er in ihrem Traum aufgetaucht war. Aber sie war wie gelähmt.
Sie setzte sich ins Auto und ergriff mit zitternder Hand die Zigarettenschachtel. Ihr ewiges Laster. Vielleicht hatte er geblufft, um sie von seinen Fähigkeiten zu überzeugen
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