Lykandras Krieger 1 - Wolfsängerin (German Edition)
Vampirzirkel löschte sein Rudel aus. Nur wenige überlebten, und der Herr war einer von ihnen. Weil er als Neuling in das Rudel aufgenommen worden war, glaubten die Überlebenden, er hätte die Vampire durch seine Unerfahrenheit und Unachtsamkeit auf ihre Spur gebracht. Sie suchten einen Schuldigen und er nahm sich diese Vorwürfe sehr zu Herzen. Von da an ging er seinen Artgenossen aus dem Weg, um stattdessen jenen zu helfen, bei denen er aufgewachsen war. Den Menschen. Sie bedeuten ihm viel. Bitte, Joli. Kannst du es mit deinem Gewissen vereinbaren, wenn er jetzt scheitert?“
Joli hielt einen Moment inne und versuchte sich gegen ihr aufkeimendes Interesse zu wehren. Es ging um ihr Leben. Um ihre Zukunft. Sie wollte nicht in diesen Konflikt hineingezogen werden. Aber sie wollte auch nicht Schuld am Unglück zahlreicher Menschen sein. Das war ein klassisches Dilemma. Sie erkannte die große Verantwortung, die auf de Sagrais Schultern lastete. Es musste schrecklich sein, sie ganz allein zu tragen. Einen Teil davon konnte sie ihm abnehmen, wenn sie sich entschied, eine Wolfsängerin zu werden. Zumindest anhören konnte sie sich, was es mit diesem Job auf sich hatte. Vielleicht war alles nur halb so wild.
Joli atmete tief durch. „Erklär es mir. Um was für eine Verbindung handelt es sich, was müsste ich tun, wenn ich ja sagen würde, was ich, nur für das Protokoll, noch nicht getan habe.“
In Tremondes steinernem Gesicht bildete sich ein kleines Lächeln. „Als ich jung war, empfing ich Botschaften in meinem Kopf.“
„Wie das?“
„Ich hörte Stimmen. Stimmen von Männern und Frauen, auch von Kindern.“
„Telepathie?“
„Nicht ganz. Manchmal waren sie laut, manchmal so leise, dass ich richtig hinhören musste, um sie zu verstehen. Mir war zu diesem Zeitpunkt nicht klar, welche Gabe in mir schlummerte. Aus Angst, die Leute könnten mich für verrückt halten, sprach ich mit niemandem darüber. Kommt dir das vielleicht bekannt vor?“
„Du meinst, ob ich auch solche Erfahrungen gemacht habe?“ Sie schüttelte den Kopf. Vielleicht löste sich das Problem von allein. Vielleicht war sie gar nicht befähigt, eine Wolfsängerin zu werden.
„Ein Wolfsänger ist eine Art Medium, durch das Lykandra zu ihren Kindern spricht. Sie auf eine Mission schickt oder vor einem Angriff der Vampire warnt.“
„Dann ist sie so eine Art ‚M’ wie aus den James Bond Filmen?“
„Wer oder was ist ‚M’?“
„Vergiss es. Empfangen alle Wolfsänger die gleichen Botschaften?“
„Nur die, für die Lykandras Worte bestimmt sind.“
„Ich verstehe.“ Sie fühlte sich noch immer nicht wohl in ihrer Haut. „Ich besitze nicht dieselbe Fähigkeit wie du. Ich habe noch nie Stimmen in meinem Kopf gehört.“
„Dennoch bist du eine Tremonde. Du wirst es lernen.“
Sie seufzte. „Ich bin nicht überzeugt. Das alles würde mein Leben auf den Kopf stellen, und das möchte ich nicht. Ich bin zufrieden wie es ist.“ Vom Männer- und Abenteuerdefizit einmal abgesehen.
„Du musst dich wirklich nicht fürchten“, sagte Tremonde, als wüsste er genau, wie sie sich fühlte. „Ich habe dem Herrn mein Leben lang gedient und wurde nie verletzt. Geriet ich in Gefahr, hat er mich beschützt. Er lässt niemanden im Stich. Ich kenne ihn besser als jeden anderen Menschen. Jederzeit würde ich meine Hand für ihn ins Feuer legen. Und glaube mir, meine Hand ist mir einiges wert. Und wie du siehst, ich würde ihm mein Kind anvertrauen.“
Joli nickte. Sie glaubte ihm. „Wie kommt es, dass ich noch nie von ihm hörte? Ich meine, wieso steht nie ein Wort über seine Heldentaten in der Presse? Das wäre doch ein gefundenes Fressen für jeden Reporter.“
„Er ist kein Superheld, sondern ein Werwolf. Was glaubst du würde geschehen, wenn die Menschen von seiner Existenz erführen?“
Darüber hatte sie sich noch keine Gedanken gemacht. Wie auch, in der kurzen Zeit. Sie wusste erst seit wenigen Minuten, dass es Werwölfe und Vampire überhaupt gab.
„Erinnere dich daran, was die Inquisition den Werwölfen und Hexen im Mittelalter antat. Sie wurden gefoltert oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ich weiß aus sicheren Quellen, unter den Opfern waren nicht nur Menschen, sondern auch echte Werwölfe.“
„Aber das ist lange her. Sind denn die Menschen heute nicht aufgeklärter?“
Tremonde schüttelte traurig den Kopf. „In manchen Dingen werden sie sich niemals ändern. Deswegen ist es wichtig, dass der Herr im Geheimen
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