Lykandras Krieger 1 - Wolfsängerin (German Edition)
war.
Ohne dass sie es ahnte, hatte sie schon einmal in Remierres Arm gelegen. Er erinnerte sich an das Bündel, als sei es gestern gewesen. Sie hatte mit ihrer winzigen Hand seinen Zeigefinger festgehalten. Selbst heute noch musste er vor Rührung lächeln, wenn er an dieses unschuldige Wesen dachte.
Damals hatten sie entschieden, dass das Leben für ein kleines Mädchen in seiner Nähe zu gefährlich war. Seiner Ansicht nach hatte sie es verdient, ruhig und behütet aufzuwachsen, bis zu jenem Moment, in dem sie ihren Vater als Wolfsänger ablösen würde.
Tremonde war nach dem Tod seiner geliebten Frau mit diesem Plan einverstanden gewesen. Er hatte gewusst, dass er seiner Tochter nicht das Leben bieten konnte, das er sich für sie wünschte, weil er sich nicht ausreichend um sie würde kümmern können.
Die Vampire wurden gefährlicher. Einige von ihnen schreckten nicht mehr vor Kreuzen oder Knoblauch zurück, weil sie aufgrund ihres steigenden Alters immer mächtiger wurden.
Nachdem Remierre vor über 60 Jahren nur knapp verhinderte, dass ein Blutsauger den damals noch sehr jungen Tremonde aus seinem Haus entführte, hatte er beschlossen, dass künftige Wolfsängergenerationen nicht in seinem Heim groß gezogen wurden, um sie so vor Übergriffen zu schützen.
Im Nachhinein zweifelte Remierre, ob diese Entscheidung richtig gewesen war. Hätten sie zu Joli Kontakt gehalten, hätten sie das Mädchen viel früher trainieren und auf seine Aufgabe vorbereiten können, wie sie es auch mit früheren Generationen getan hatten.
Nun sah es danach aus, als müsste er einen neuen Wolfsänger finden und ausbilden. Aber das würde alles andere als einfach werden. Im Laufe ihres Krieges hatten die Vampire nicht nur viele Werwölfe, sondern auch viele Wolfsänger getötet. Dennoch konnte er Tremonde nicht länger den Stress zumuten, den diese Aufgabe mit sich brachte.
Remierre schloss die Augen und erinnerte sich an ihren süßen Duft, den er in seiner Wolfsgestalt wahrgenommen hatte.
Es irritierte ihn aus zwei Gründen. Zum einen weil er ausgerechnet jetzt daran denken musste. Und zum anderen, weil ihn ihr Duft auf merkwürdige Weise anregte, ihn erregte.
Als er vor ihr gestanden und dieses blumige Aroma in sich aufgenommen hatte, hatte er sich seltsam, doch auf eine belebende Weise berührt gefühlt. Er hatte viel zu lange mit dem Moder der Vampire zu tun gehabt als dass ihn dieser Duft kalt lassen konnte. In dem Moment, in dem er ihn wahrgenommen hatte, schien ein Teil ihrer jugendlichen Frische auf ihn übergegangen zu sein, denn er hatte sich schon lange nicht mehr so lebendig gefühlt.
Ihr zarter Duft hatte eine Sehnsucht in ihm geweckt, die seit einer Ewigkeit in ihm schlummerte, der er jedoch nicht nachgeben durfte, weil er ein Diener Lykandras war. Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen, die ihm keine Zeit für anderes erlaubte.
Remierre drehte sich auf die Seite. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als Joli gehen zu lassen.
„Ich muss hier weg“, sagte Joli und taumelte zur Tür.
Sie sollte sich beeilen, bevor sie schwach wurde und ihre Meinung änderte.
„Willst du wirklich das Leben unschuldiger Menschen aufs Spiel setzen?“
Die Stimme ihres Vaters ließ sie herumwirbeln. Er musterte sie von oben bis unten ohne eine Miene zu verziehen.
„Nein. Nein, ich will nicht, dass irgendjemand stirbt, aber das ist alles zu viel für mich.“
Welche Frau mit einem Intelligenzquotient über achtzig würde sich freiwillig auf einen echten Werwolf einlassen? Einem Wesen, das sonst nur mordend durch Film und Fernsehen zog?
„Dann hilf ihm, ich flehe dich an, Joli. Hilf ihm.“ Tremonde griff mit beiden Händen nach ihren Schultern und schüttelte sie, als hoffte er, sie dadurch zur Besinnung zu bringen.
„Nicht, hör auf. Du hast doch gehört, was er gesagt hat. Du sollst mich gehen lassen.“
„Er ist ein Narr.“
Joli hob verblüfft eine Braue. Diese Worte ausgerechnet aus dem Mund ihres Vaters zu hören, überraschte sie. Bisher hatte er de Sagrais nicht in Frage gestellt, sich ihm gegenüber sogar unterwürfig verhalten.
„Er sieht sich gern in der Rolle des Märtyrers. Dabei vergisst er, dass nicht er der Leidtragende dieser verhängnisvollen Entscheidung ist, sondern Menschen wie du und all jene, die du kennst. Seit Jahrzehnten schützt er sie vor diesen elenden Blutsaugern, die nachts aus ihren Gräbern kriechen und über Unschuldige herfallen. Der Herr musste in seinem Leben viel durchmachen. Ein
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