Lykandras Krieger 1 - Wolfsängerin (German Edition)
Tremonde, der hinter de Sagrais aufgetaucht war. „Du bist meine Tochter! In dir fließt das Blut der Tremondes. Du bist eine Wolfsängerin.“
Joli blickte von einem zum anderen. Sie sah die spitzen Zähne von de Sagrais, die sich langsam zurückbildeten, und die Wolfsohren, die sich nicht länger unter seinem nun zerzausten Haar versteckten.
„Bitte, fürchte dich nicht vor mir“, sagte de Sagrais und streckte ihr die noch immer stark behaarte Hand entgegen.
Er hoffte wohl, diese Geste würde sie beruhigen. Aber der Anblick seiner klauenartigen Fingernägel versetzte Joli in noch größere Panik. Sie stieß seine Hand weg und glitt mit dem Rücken die Wand hinab, schlang die Arme um die Beine und erlitt einen Weinkrampf.
„Tu, was er von dir verlangt! Du bist eine Tremonde! Es ist deine Pflicht“, hallten die Worte ihres Vaters an ihr Ohr.
„Aufhören! Bitte, hört auf“, keuchte sie mit tränenerstickter Stimme. Zu ihrer Überraschung verstummte Tremonde.
Sie hatte nicht erwartet, dass er so schnell aufgeben würde. Immerhin ging es um diese verfluchte Tradition, wobei das Wort ‚verflucht’ in diesem Fall sogar wörtlich zu nehmen war. Und die Familientradition ging ihm über alles. Oder doch nicht? Sie wusste nicht mehr, was sie glauben sollte.
Ihr schwirrte der Kopf, Gedanken überschlugen sich. Vor ihrem geistigen Auge wiederholte sich alles, was sie eben erlebt hatte. Klauen wurden zu Händen. Eine lange Schnauze zu einem Gesicht. Der Marquis konnte sich wahrhaftig in einen Wolf verwandeln. Das bedeutete, er war tatsächlich ein echter Werwolf. Joli lauschte ihrem viel zu schnellen Herzschlag. Für eine Weile schien die Zeit still zu stehen. Ihr war das nur recht, sie brauchte alle Zeit der Welt, um sich von diesem Schrecken zu erholen. Nach einer Weile vernahm sie de Sagrais Stimme, die tief doch auch traurig klang.
„Lass sie gehen, alter Freund. Selbst wenn sie die Letzte deiner Blutlinie ist.“
Schritte entfernten sich. Vorsichtig hob sie den Kopf und beobachtete de Sagrais, der sich, nun wieder ganz Mensch, die Treppe in den oberen Stock hinaufschleppte. Er wirkte erschöpft, als hätte er einen fünfstündigen Marathon hinter sich. Seine Schultern hingen mutlos hinab. Er machte einen gebrochenen Eindruck und wirkte verletzt. Sie konnte niemanden leiden sehen, weder Mensch noch Tier. Oder Werwolf. Sie war versucht aufzuspringen, ihm nachzueilen. Doch das war viel zu riskant.
Er war ein echter, leibhaftiger Werwolf.
Sie konnte nicht einschätzen, wie groß die Gefahr war, die vielleicht von ihm ausging. Werwölfe waren böse, das wusste jeder, der schon einmal einen Werwolfroman gelesen hatte. Selbst wenn er nicht böse war, und genau genommen machte er nicht diesen Eindruck, so war es sicher ganz und gar nicht gesund, sich einen münzgroßen Kristall in die Brust zu pflanzen. Dieses Mal, dieses eine Mal, würde sie ihrem Helferdrang nicht nachgeben und zuerst an sich selbst denken. Joli drückte ihren Rücken gegen die Wand und stemmte sich an ihr hoch, bis sie auf den Füßen stand.
Remierre de Sagrais betrat mit einem brennenden Gefühl im Hals sein Zimmer und stellte sich ans Fenster, welches er öffnete, um frische Luft einzulassen. Es war lange her, seit er sich vor den Augen eines Menschen in einen Wolf verwandelt hatte. Normalerweise versuchte er so wenig Aufmerksamkeit wie nur irgend möglich auf sich zu ziehen. In diesem Fall hatte er eine Ausnahme gemacht, um Joli zu beweisen, dass Tremonde ihr die Wahrheit erzählt hatte. Die Angst in den Augen der jungen Frau würde er gewiss niemals vergessen. Was hatte er anderes erwartet, als dass sie vor ihm zurück schrecken würde?
Remierre wandte sich vom Fenster ab und ließ sich rücklings auf sein Bett fallen. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, starrte er die verzierte Decke an und versuchte seine Gedanken zu ordnen.
Wenn sie aus Furcht vor ihm den Pakt mit Lykandra nicht eingehen wollte, dann sollte es so sein. Er konnte und wollte sie zu nichts zwingen.
Vor lauter Sorge um Tremondes Ableben hatte er außer Acht gelassen, dass Joli vielleicht ablehnen könnte. Er war fest davon ausgegangen, dass sie die Tradition ihrer Vorfahren fortsetzen würde, denn bisher hatte ihm kein Mitglied der Familie Tremonde je seinen Dienst verweigert.
Im Unterschied zu ihren Ahnen war Joli jedoch nicht mit dem Wissen über die Existenz der Werwölfe aufgewachsen, weil sie bereits im Säuglingsalter zur Adoption freigegeben worden
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