Lyonesse 1 - Herrscher von Lyonesse
hielt er den Bogen und den Pfeil in die Höhe und gestikulierte, damit die zwei sehnsüchtig herüberwinkenden Gestalten, die so nah waren und doch so fern, seine Absicht errieten, und schließlich band er ein Ende des Fadens an den Pfeil.
Shimrod wandte sich zu Cargus um. »Kannst du den Pfeil auf das Turmdach schießen?«
Cargus legte den Pfeil mit der Kerbe auf die Bogen-sehne. »Wenn ich es nicht schaffe, hole den Faden wiedereinundlaßeseinenbesserenMann versuchen!«
Er zog den Pfeil mit der Sehne an den Körper, bis der Bogen zum Zerbersten gespannt war, dann hob er ihn langsam, zielte lange und sorgfältig und ließ die Sehne schnellen. Hoch durch den Himmel, hinunter und auf das Dach von Tintzin Fyral flog der Pfeil, hinter sich den Faden herziehend. Glyneth und Dhrun rannten, den Faden aufzufangen. Auf ein Zeichen von Shimrod banden sie ihn um ein unversehrt gebliebene Zinne auf der rückwärtigen Seite des Turmdaches. Sofort verdickte sich der Faden zu einem geflochtenen Tau von zwei Zoll Durchmesser. Auf dem Tac Tor legte sich ein Zug Soldaten mit den Schultern in das Tau und zog es stramm.
Drei Stockwerke tiefer, im Salon, saß Carfilhiot mißmutig, aber erleichtert, daß es ihm mit seinem genialen Schachzug gelungen war, das Sperrfeuer zum Schweigen zu bringen. Wie sollte er jetzt weiter vorgehen? Alles war in der Schwebe; die Lage mußte sich ändern. Er würde all seinen Scharfsinn einsetzen, all seinen Erfindungsgeist, all sein Talent für flinke Improvisation, um aus dieser trostlosen Situation das Bestmögliche für sich zu machen. Trotz alledem begann eine schreckliche Gewißheit sich wie ein düsterer Schatten über seinen Geist zu legen: Er hatte nur sehr geringen Spielraum für taktische Kunstgriffe. Seine größte Hoffnung, Tamurello, hatte ihn im Stich gelassen. Und selbst wenn er Dhrun und Glyneth unbegrenzt auf dem Dach hocken ließ, konnte er einer Belagerung doch nicht auf ewig standhalten. Er stieß ein wütendes, gequältes Knurren aus. Die Zeit war gekommen für einen Kompromiß, für Freundlichkeit und geschmeidiges Handeln. Was für Bedingungen würden ihm seine Feinde anbieten? Wenn er seine Geiseln freiließ und Shimrod sein Eigentum herausgab, würden sie ihm dann die Herrschaft über das Tal lassen? Wahrscheinlich nicht. Dann wenigstens die Burg? Wahrscheinlich nicht ... Draußen herrschte Stille. Was mochte jetzt auf dem Tac Tor vorgehen? Vor seinem geistigen Auge stellte Carfilhiot sich vor, wie seine Feinde am Rande des Abgrunds standen und fruchtlose Verwünschungen in den Wind brüllten. Er ging ans Fenster und spähte empor. Er starrte auf das Seil am Himmel und stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Schon machten sich auf dem Tac Tor die ersten bereit, an dem Seil hinunterzurutschen. Er rannte zum Treppenabsatz und brüllte hinunter: »Robnet! Eine Abteilung auf das Dach, schnell!«
Er hastete hinauf zu den Trümmern seiner Privatgemächer. Die Stufen zum Dach gaben ächzend und knarrend unter seinem Gewicht nach und schwankten bedrohlich hin und her. Vorsichtig, mit so leichtem Tritt als möglich, stieg er weiter. Er hörte Glyneths Jubelruf, versuchte, schneller zu steigen, und fühlte plötzlich, wie die Stufen unter seinen Füßen wegsackten. Er ruderte verzweifelt mit den Armen, bekam einen zersplitterten Dachbalken zu fassen und zog sich hoch. Da stand plötzlich Glyneth mit bleichem Gesicht über ihm. Sie schwang ein von einem Balken abgesplittertes Stück Holz und hieb es ihm mit aller Kraft auf den Kopf. Benommen sackte er zurück, aber es gelang ihm, mit einem Arm den Dachbalken umklammert zu halten. Mit der Kraft der Verzweiflung riß er sich hoch und bekam Glyneths Fußgelenk zu fassen. Mit einem Ruck zog er sie zu sich heran.
Da kam Dhrun gerannt. Er hob den Arm und rief: »Dassenach! Mein Schwert Dassenach! Komm zu mir!«
Aus dem fernen Wald von Tantrevalles, aus dem Gebüsch, in das Carfilhiot es geworfen hatte, kam das Schwert Dassenach geflogen, geradewegs in Dhruns Hand. Er hob es hoch empor und stieß es hinunter in Carfilhiots Hand und heftete sie an den Dachbalken. Glyneth riß ihren Fuß aus Carfilhiots Umklammerung und krabbelte in Sicherheit. Carfilhiot stieß einen gellenden Schrei aus. Sein Griff um den Dachbalken löste sich, und er hing, nur noch gehalten von Dhruns Schwert Dassenach, über dem Abgrund.
In einer Schlaufe reitend, kam ein untersetzter, breitschultriger Mann mit dunklem, ernstem Gesicht am Seil heruntergeglitten. Er sprang
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