Lyonesse 1 - Herrscher von Lyonesse
den Blick ab, und Dame Boudetta wurde von der seltsamen Ahnung beschlichen, daß die Gedanken der Prinzessin in irgendeine ferne Zukunft schweiften.
Dame Boudettas Stimme klang heiser vor unterdrückter Erregung, als sie schließlich sprach: »Prinzessin Suldrun, Ihr seid nicht glücklich mit Dame Maugelins Erziehung?«
»Ich mag sie nicht.«
»Aber Ihr mögt Ehirme, nicht?«
Anstelle einer Antwort knickte Suldrun einen Grashalm.
»Nun gut«, sagte Dame Boudetta, und ihre Stimme nahm einen würdevollen Ton an. »So soll es denn sein. Wir wollen doch nicht, daß unser kostbares kleines Prinzeßchen unglücklich ist.«
Ein Blick, der Dame Boudetta voll zu durchschauen schien.
Dame Boudetta dachte mit bitterer Belustigung: Wenn die Dinge so liegen, nun gut, dann soll's eben so sein. Zumindest wissen wir jetzt, woran wir miteinander sind.
Um ihr Gesicht zu wahren, fügte sie in strengem Ton hinzu: »Ehirme soll zurückkommen, aber Dame Maugelin wird Euch weiterhin im Betragen unterweisen.«
2
Ehirme kehrte zurück, und Dame Maugelin fuhr fort in ihrem Bemühen, Suldrun zu erziehen – mit demselben Erfolg wie vorher. Dabei war Suldrun nicht einmal so sehr widerspenstig, als vielmehr geistesabwesend. Statt Dame Maugelin angestrengt zu trotzen, ignorierte sie sie schlicht.
Das brachte Dame Maugelin in eine unangenehme Klemme. Gestand sie ihr Versagen ein, so bestand die Gefahr, daß Dame Boudetta ihr eine noch weniger erfreuliche Arbeit zuwies. Also fand sich Dame Maugelin täglich in Suldruns Gemächern ein. Ehirme war jedesmal in der Nähe.
Gleich, ob den beiden ihre Anwesenheit genehm war oder nicht, schritt Dame Maugelin dann mit einem dümmlich-verlegenen Grinsen im Zimmer umher und tat so, als würde sie hier und dort nach dem Rechten schauen.
Schließlich näherte sie sich dann Suldrun in wohlgemuter, aufmunternder Vertraulichkeit. »Nun, liebe Prinzessin, heute wollen wir mal schauen, wie wir eine feine Hofdame aus Euch machen können. Als erstes zeigt mir einmal Euren besten Knicks.«
Suldrun war von Dame Maugelin in sechs Hofknicksen von unterschiedlichem Förmlichkeitsgrad unterwiesen worden, und zwar dergestalt, daß Dame Maugelin ihr sie immer und immer wieder unter großem Schnauben und Schwitzen vorgeführt hatte, bis die Prinzessin sich schließlich – mehr aus Mitleid – dazu bequemt hatte, die Übung nachzumachen.
Nach dem Mittagsmahl, das entweder in Suldruns Gemächern oder, wenn das Wetter schön war, in der Orangerie aufgetragen wurde, pflegte Ehirme heimzukehren, um sich um ihren eigenen Haushalt zu kümmern, während Dame Maugelin sich zu einem Mittagsnickerchen hinlegte. Suldrun mußte sich ebenfalls schlafen legen, doch sobald die ersten Schnarchgeräusche aus Dame Maugelins Mund drangen, sprang Suldrun aus dem Bett, schlüpfte in ihre Schuhe, huschte den Flur und die Treppe hinunter und wanderte in den Weiten des alten Palastes umher.
Während der stillen Nachmittagsstunden schien der Palast selbst im Schlummer zu liegen, und die kleine zerbrechliche Gestalt bewegte sich durch die Gänge und hohen Säle wie ein Traumwölkchen.
Bei sonnigem Wetter besuchte sie manchmal die Orangerie und spielte im Schatten der sechzehn alten Orangenbäume. Häufiger jedoch wanderte sie auf unauffälligen Pfaden zum Großen Palas und von dort aus zum Ehrenhaus, an dessen Längswänden die vierundfünfzig großen Stühle aufgereiht standen, welche die vierundfünfzig nobelsten Familien von Lyonesse repräsentierten.
Für Suldrun offenbarte jedes der Embleme das Wesen, das dem Stuhl innewohnte, über dem es hing. Es legte anschaulich und exakt Zeugnis ab von seinem Charakter. So schlummerte in einem Stuhl Tücke und Falschheit, obwohl er Anmut und Grazie vorspiegelte. Ein anderer stellte tollkühne, dem Untergang geweihte Verwegenheit zur Schau. Suldrun erspürte ein Dutzend Spielarten von Bedrohung und Grausamkeit und ebenso viele namenlose Stimmungen und Regungen, die sich einer genaueren Beschreibung entzogen und die in ihrem Magen ein seltsames Kribbeln auslösten – oder Gänsehaut oder erotische Gefühle, flüchtig, angenehm, doch sehr befremdend. Bestimmte Stühle liebten Suldrun und gaben ihr Schutz; andere strömten düstere Gefahr aus. Wenn sie sich zwischen den massiven Stühlen bewegte, fühlte sie sich auf eine seltsam prickelnde Weise ausgeliefert. Sie ging mit langsamen Schritten, nach unhörbaren Geräuschen horchend, gespannt Ausschau haltend, ob sich etwas bewegte oder die
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