Lyonesse 1 - Herrscher von Lyonesse
dunklen Farben und Schatten sich veränderten. Saß sie dann, halb schläfrig, halb wachsam, in den Armen eines Stuhles, der sie liebte, dann wurde sie empfänglich. Das Murmeln der lautlosen Stimmen näherten sich der Schwelle des Hörbaren, und sie lauschte dem Gespräch der Stühle, ihren Tragödien und Triumphen.
Am Ende des Saales hing ein dunkelrotes, mit einem Baum des Lebens besticktes Banner von den Deckenbalken herunter bis zum Boden. Ein Schlitz im Tuch des Banners gewährte Zugang zu einer Hinterkammer, einem düsteren, schmutzigbraunen Raum, der nach altem Staub roch. In diesem Raum wurden Zeremoniengegenstände aufbewahrt: eine Schale aus Alabaster, Kelche, Tuchbündel. Suldrun mochte diesen Raum nicht; sie empfand ihn als einen schrecklichen kleinen Ort, in dem grausame Taten geplant und vielleicht sogar ausgeführt worden waren, von denen noch immer die Luft zitterte.
Manchmal freilich übten die Palasse und Hallen keine Anziehungskraft auf Suldrun aus. Dann stieg Suldrun auf den Alten Bergfried und schaute über die Brüstung auf den Sfer Arct hinaus, auf dem es immer interessante Dinge zu sehen gab: Reisende, die kamen und gingen; mit Fässern, Ballen und Körben beladene Karren; fahrende Ritter in zerbeulten Rüstungen; Edle mit ihrem Gefolge; Bettler wandernde Scholaren, Priester und Pilger von einem Dutzend Sekten; Landvolk, das herangereist war, um Tuche, Gewürze und allerlei andere Dinge zu kaufen.
Im Norden verlief der Sfer Arct zwischen den beiden Felsklippen Maegher und Yax: versteinerte Riesen, die König Zoltra Hellstern beim Ausbaggern des Hafens von Lyonesse geholfen hatten. Sie waren jedoch, so die Legende, widerspenstig geworden, worauf der Zauberer Amber sie in Felsblöcke verwandelt hatte.
Von der Brustwehr aus konnte Suldrun den Hafen sehen und die wunderbaren Schiffe aus fernen Ländern, die in ihren Vertäuungen knarrten. Sie waren unerreichbar. Sich so weit fortzuwagen würde Stürme der Entrüstung von Vorwürfen von seiten Dame Maugelins auslösen, und vielleicht würde sie sogar vor der Königin erscheinen müssen oder gar vor König Casmir. Sie verspürte nicht den Wunsch, einen von den beiden zu sehen: Königin Sollace war für sie kaum mehr als eine gebieterische Stimme aus einem Schwall rauschender Gewänder, und König Casmir war ein strenges Gesicht mit stechenden Augen, goldenen Locken, mit einer goldenen Krone obendrauf, umsäumt von einem goldenen Bart.
Eine Gegenüberstellung mit Königin Sollace oder König Casmir heraufzubeschwören, lag nicht in ihrer Absicht. Sie beschränkte ihre Wanderungen daher auf den Bereich von Burg Haidion.
Als Suldrun sieben war, wurde Königin Sollace erneut schwanger, und diesmal schenkte sie einem Sohn das Leben. Sollace hatte etwas von ihrer Angst verloren und litt daher weit weniger als bei der Geburt Suldruns. Das Kind bekam den Namen Cassander; zu gegebener Zeit würde aus ihm Cassander V. werden. Es wurde im Sommer geboren, bei schönem Wetter, und die Festlichkeiten anläßlich seiner Geburt dauerten eine Woche.
Haidion beherbergte erlauchte Gäste aus allen Regionen der Älteren Inseln. Aus Dascinet waren Fürst Othmar und seine aquitanische Gemahlin, Fürstin Eulinette, angereist, des weiteren die Herzöge Athebanas, Helingas und Outrimadax samt ihrer Gefolgschaft. König Granice von Troicinet hatte seine Brüder, Prinz Arbamet und Prinz Ospero, gesandt, letztere mit ihren Söhnen Trewan und Aillas. Aus Süd-Ulfland war Großherzog Erwig mit einem kostbaren Geburtsgeschenk gekommen: einer prachtvollen Truhe aus Mahagoniholz mit Intarsien aus rotem Hornstein und blauem Türkis. König Gax von Nord-Ulfland konnte seine Aufwartung nicht machen, da er von den Ska belagert wurde. König Audry von Dahaut hatte eine Delegation von hohen Adligen und als Geschenk zwölf aus Elfenbein geschnitzte Elefanten gesandt ... Und so ging es fort. Bei der Zeremonie der Namensgebung im Großen Palas saß Prinzessin Suldrun mit ernster Miene neben sechs Töchtern des Hochadels. Gegenüber saßen die jungen Prinzen Trewan und Aillas von Troicinet, Bellath von Caduz und die drei jungen Herzöge von Dascinet. Suldrun trug ein Gewand aus hellblauem Samt, und ein mit Mondsteinen besetztes Netz bedeckte ihr weiches, blaßblondes Haar. Sie war hübsch und wohlgestaltet und zog die Aufmerksamkeit vieler Personen auf sich, die ihr bisher wenig Beachtung geschenkt hatten, einschließlich des Königs selbst. »Sie ist fürwahr hübsch«, dachte
Weitere Kostenlose Bücher